Mit neuen Ideen ist das meistens so eine Sache: Für Wachstum und Fortschritt sind sie unverzichtbar, in ihrer ersten Form in der Regel allerdings oft noch unausgereift. Es braucht Zeit für Entwicklung, Präzisierung und Verbesserung, damit aus einem Geistesblitz ein Donnerwetter wird, in der Regulatorik gleich einmal mehr. Rund hundert Jahre ist es her, seit „Unternehmen“ und „soziale Verantwortung“ in einem Atemzug genannt wurden, heute sprechen wir von ESG – das steht für Environmental, Social, Governance – als zunehmend relevante Strategie zur Steigerung eines Unternehmenswerts im Hinblick auf Umwelt, Soziales und Unternehmensführung.
Studien rund um den Globus belegen die zunehmende Relevanz des Themas und den steigenden Anspruch von Investoren an die Erfüllung von ESG-Kriterien, was auch der EY Global Institiutional Investor Survey 2021 bestätigte: 90 Prozent der befragten institutionellen Investoren gaben an, dass sie bei ihren Anlageentscheidungen seit Beginn der Pandemie der ESG-Performance von Unternehmen mehr Bedeutung beimessen. 86 Prozent meinen außerdem, eine gute ESG-Bewertung habe heute einen wesentlichen Einfluss auf die Empfehlung von Analysten – schließlich stärkt sie die Wettbewerbsfähigkeit und die Resilienz eines Unternehmens. Angaben des Finanzunternehmens Morningstar bestätigen die Zahlen von EY: Die Vermögenswerte nachhaltiger Fonds erreichten im September 2022 einen Wert von 2,2 Billionen US-Dollar weltweit und haben sich damit im Vergleich zu 2020 mehr als verdoppelt.
Das Fehlen von Standards bei ESG-Ratings erschwert Quantifizierung
Nur – damit sind wir wieder bei neuen Ideen – hat sich bisher noch kein einheitlicher Standard für ESG-Daten entwickelt, was es für Unternehmen zur Herausforderung macht, ihre ESG-Performance zu messen, zu steuern und zu verbessern. Denn dabei sollten generell immer zwei Perspektiven berücksichtigt werden.
- die Messung der ESG- beziehungsweise Nachhaltigkeits-Performance an sich, um daraus unternehmerische Maßnahmen abzuleiten, die sie verbessern
- die Quantifizierung der Auswirkung von ESG-Maßnahmen auf die finanzielle Performance aus Sicht der Kapitalgeber: Welche generieren Wert, welche nicht?
Nur eine belastbare quantitative Basis aus beiden Perspektiven ermöglicht es, gute und richtige Entscheidungen für das Unternehmen zu treffen – ob es um ESG-Investitionen, Firmenzukäufe oder die Neuausrichtung des Portfolios unter Nachhaltigkeitsaspekten geht. Doch ohne einheitliche Standards ist das eben schwieriger.
Inzwischen gibt es zwar diverse ESG-Rating-Agenturen, diese nehmen jedoch keine einheitliche Erfassung und Bewertung einzelner ESG Bereiche vor, sondern wenden unterschiedliche Methodologien an oder gewichten Themen unterschiedlich. Das führt beispielsweise zu dem absurden Ergebnis, dass ein Unternehmen je nach Agentur abweichende Resultate vorweist. Diese Uneinheitlichkeit und mangelnde Transparenz löst berechtigte Kritik aus.
Hinzu kommt: Gerade bei der Analyse finanzieller Auswirkungen von ESG-Maßnahmen sollten auch die positiven Werteffekte der Maßnahmen berücksichtigt werden – schon allein um die relevanten Entscheidungsträger und Stakeholder zu überzeugen. Diese positiven Effekte können jedoch sehr vielfältig sein und wirken oft nur mittelbar und zudem in unterschiedlichen Zeithorizonten. Beispiele dafür gibt es viele: neue Märkte, Preisvorteile aufgrund sich ändernder Konsumentenpräferenzen, einfacherer Zugang zu Eigen- und Fremdkapital, mehr Transparenz und Resilienz in Lieferketten, stabilisierte Energiekosten, stärkere Mitarbeiterbindung und Kundenloyalität, Steuervorteile – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Diese Vielseitigkeit erschwert die Quantifizierung zusätzlich.
Die Analyseansätze Inside-out und Outside-in
Gerade wegen abweichender Methoden externer ESG-Ratings sollten sich Unternehmen bei der Identifikation der für sie relevanten Nachhaltigkeitsziele und ESG-Fokusthemen nicht ausschließlich auf externe Agenturen verlassen. Es gilt, das eigene Geschäftsmodell, die eigenen strategischen Zielsetzungen und die eigene Positionierung im Wettbewerb konsequent im Blick zu behalten.
Die Rating-Methoden der großen Agenturen können aber neben anderen Frameworks einen guten Einstieg für eigene Überlegungen darstellen. So können beispielsweise die Gewichtungen von ESG-Bereichen in verschiedenen Branchen durch die Anbieter helfen, schnell erste Arbeitshypothesen über relevante Nachhaltigkeitsthemen aufzustellen. Die strukturierten Datensätze der Rating-Agenturen sind zudem hilfreich bei der Einordung, an welchem Punkt man sich befindet und in welchen Bereichen Aufholbedarf besteht – innerhalb der eigenen Branche und im Vergleich zu relevanten Wettbewerbern.
Unternehmensspezifische Prognosen zu den finanziellen Auswirkungen von ESG-Initiativen sind dann aber unabdingbar, um Priorisierungen vorzunehmen und den Erfolg der Initiativen nachzuhalten. Spätestens an diesem Punkt sind Verallgemeinerungen nicht mehr möglich, die Prognosen müssen unternehmensspezifisch erarbeitet werden. Geografische Footprints, Fertigungsprozesse, Energiemix, Lieferketten, Kundenstämme und andere relevante Dimensionen unterscheiden sich oft erheblich, selbst innerhalb einzelner Branchen. Neben Markt- und Branchendaten sollte dementsprechend auch auf interne Nachhaltigkeitsdaten, operative Kennzahlen und Finanzgrößen zurückgegriffen werden (Inside-out-Analyse).