Die Europäische Gesellschaft (Societas Europaea, kurz SE), häufig auch Europäische Aktiengesellschaft genannt, wurde im Jahr 2001 eingeführt. Ihr Zweck: Unternehmen sollen EU-weit als rechtliche Einheit mit nationalen Niederlassungen auftreten und so den Binnenmarkt fördern und ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Seither haben sich gut 4.000 Unternehmen für die SE entschieden. Rund 1.000 SEs existieren allein in Deutschland, darunter bekannte Namen wie Allianz, BASF, SAP und Siemens. Nun könnte eine anstehende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für zusätzliche Attraktivität sorgen. Im Kern geht es um die Frage, ob das sogenannte Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachträglich durchzuführen ist, wenn eine SE zunächst durch arbeitnehmerlose Gesellschaften gegründet wurde und erst im Anschluss die Kontrolle über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern übernimmt.
Vorlage vom Bundesarbeitsgericht
Beim EuGH-Verfahren geht es um eine Vorabentscheidung; eingeleitet wurde es durch einen Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 17. Mai 2022 (Az.: 1 ABR 37/20). Hier hat Generalanwalt Jean Richard de La Tour in seinen Schlussanträgen grundlegende Standpunkte bezüglich der Pflicht zum Nachholen von Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren bei der Gründung einer SE dargelegt. Inhaltlich plädiert der Generalanwalt gegen die Notwendigkeit, das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachträglich durchzuführen. Bisher galt bei der Aktivierung einer zunächst leeren SE die Praxis, dass das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchgeführt werden muss. Dieses beinhaltet Verhandlungen zwischen Arbeitnehmervertretern und Unternehmensleitung über die Mitbestimmung in der SE.
Rechtsgrundlage
Die Rechtsgrundlage findet sich in der Richtlinie 2001/86/EG, auch bekannt als SE-Richtlinie. Diese schreibt vor, dass vor der Gründung einer SE Verhandlungen über die Beteiligung der Arbeitnehmer geführt werden müssen. Dieses Erfordernis greift selbstredend dann nicht, wenn die SE bei Gründung keine Beschäftigten hat. Um Umgehungsgestaltungen zu vermeiden, muss bisher das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren aber nachgeholt werden, sobald die SE mit Leben gefüllt wird, wenn sie also aktiv nach außen erkennbar am Rechtsverkehr teilnimmt und etwa ihren Betrieb aufnimmt, Mitarbeitende einstellt usw.
Keine versehentliche Lücke in der Richtlinie
Nach den Schlussanträgen von Generalanwalt Jean Richard de La Tour ergibt sich aber eine Ausnahme von dieser Pflicht in der SE-Richtlinie. Dass darin ein Recht auf Nachholen des Beteiligungsverfahrens fehlt, sei keine versehentliche Lücke, sondern eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die sich aus dem Kompromiss über das Vorher-nachher-Prinzip ergebe. Das Vorher-nachher-Prinzip besagt, dass der Status quo der Mitbestimmung einer in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft auch nach dem Formwechsel erhalten bleibt. Dies gilt unabhängig davon, ob die SE danach möglichweise die für die Mitbestimmung maßgeblichen Arbeitnehmerzahlen überschreitet. Der bisherige Status quo wird also „eingefroren“. War die Gesellschaft vor Formwechsel in die SE nicht mitbestimmt, ist sie es auch danach nicht. Der Generalanwalt führt hierzu aus, dass nur ausnahmsweise in Missbrauchsfällen das Nachholen des Beteiligungsverfahrens in Betracht kommen könne.
Sonderfall Vorrats-SE
Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH den Empfehlungen von Generalanwalt Jean Richard de La Tour folgen wird. Dessen Plädoyer ist nicht bindend, doch orientieren sich die Richter in der Regel daran. Daneben ist noch unklar, ob die EuGH-Entscheidung auch auf die Vorrats-SE anwendbar sein wird. Hier kommt die Besonderheit hinzu, dass im Zuge der Aktivierung einer Vorrats-SE verschiedene Gründungsvorschriften erneut anzuwenden sind. Bekommt diese dann Arbeitnehmer oder werden über Tochtergesellschaften Arbeitnehmer eingebracht, könnte dies möglicherweise wie eine Neugründung behandelt werden, was wiederum grundsätzlich zu einem Beteiligungsverfahren führt. Auf einen Missbrauch käme es dann nicht an.
Börsenmantelgesellschaft
Die Vorrats-SE ist derzeit Gegenstand eines anderen Verfahrens, das dem BAG zur Entscheidung vorliegt. In diesem Verfahren geht es um die Frage, wann ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren in analoger Anwendung der einschlägigen Vorschriften des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SEBG) auch bei einer Vorrats-SE nachzuholen sei. Das OLG Düsseldorf hatte zu dieser Thematik in einer Entscheidung im Jahr 2009 (Beschluss v. 30. März 2009, I-3 Wx 248/08) ausgeführt, dass in Bezug auf die Vorrats-SE das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren in analoger Anwendung der Vorschriften der §§ 1 Abs. 4, 18 Abs. 3 SEBG über eine Neuverhandlungspflicht bei strukturellen Änderungen nachzuholen sei, sobald die Vorrats-SE wirtschaftlich neu gegründet [wird], namentlich mit einem Unternehmen ausgestattet wird und infolgedessen über Arbeitnehmer verfügt. Eine weitere Präzisierung dieser Voraussetzungen erfolgte in der Entscheidung des OLG Düsseldorf allerdings nicht, da es darauf im konkreten Fall letztlich nicht ankam. Das ArbG Bamberg hat diese Thematik sodann in einer Entscheidung im Jahr 2021 (Beschluss v. 8. September 2021, 4 BV 31/20) erstmals wieder aufgegriffen und abweichend vom OLG Düsseldorf ausgeführt, dass das Beteiligungsverfahren bereits in analoger Anwendung der §§ 4 ff. SEBG (und nicht erst nach § 18 Abs. 3 SEBG analog) nachzuholen sei. Nach diesen Vorschriften bestehe die Pflicht zur Nachholung, sobald die Vorrats-SE aktiviert werde und Arbeitnehmer für Verhandlungen zur Verfügung stünden. Dabei sei es nicht erforderlich, dass die SE selbst Arbeitnehmer habe, sondern es genüge vielmehr, wenn in einer Tochtergesellschaft Arbeitnehmer beschäftigt seien. Die Entscheidung des ArbG Bamberg wurde in zweiter Instanz durch das LAG Nürnberg mit Beschluss vom 1. September 2022, 3 TaBV 29/21 korrigiert und in Bezug auf eine Vorrats-SE entschieden, dass in dem konkreten Fall keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bei Eintritt einer Vorrats-SE bestünde. Ein Beteiligungsverfahren sei bei einer wirtschaftlichen Aktivierung – so das LAG Nürnberg – allenfalls dann nachzuholen, wenn die SE selbst mit einem Unternehmen ausgestattet werde und die SE wenigstens zehn Arbeitnehmer beschäftige.
Die nunmehr anstehende Entscheidung dürfte mit Spannung erwartet werden, genießt doch die Vorrats-SE aufgrund ihrer flexiblen Einsatzmöglichkeit im Rahmen von Transaktionen und Konzernumstrukturierungen große Relevanz in der Praxis. Zudem ist im Zuge des Zukunftsfinanzierungsgesetzes eine Ergänzung des § 44 Abs. 8 BörsG vorgesehen, die eine SE zukünftig als Rechtsform für eine Börsenmantelgesellschaft (BMAG) erlaubt. BMAGs wären dann unter bestimmten Voraussetzungen zur Durchführung eines Verhandlungsverfahrens nach dem SE-Beteiligungsgesetz verpflichtet.
Es bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit die Entscheidung des BAG zur Vorrats-SE auch allgemeine Erläuterungen zur Frage der generellen Anwendbarkeit der Regelungen des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens auch auf die Vorrats-SE enthalten wird. Grund ist, dass es in dem vom LAG Nürnberg vorgelegten konkreten Fall um den Beitritt einer SE als Komplementärin zu einer KG geht.