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Wie Unternehmen eine Integritätskultur fördern können

Der EY Global Integrity Report 2024 zeigt: Das globale Umfeld erschwert es Unternehmen, Integritätsstandards zu leben.


Übersicht

  • Insgesamt hat sich das Compliance- und Integritätsumfeld in Unternehmen verbessert, doch unternehmerisches Fehlverhalten und Fraud scheinen zuzuneh­­­­­­­men.
  • Die Diskrepanz zwischen Tone from the Top und wirklichen Handeln von Führungskräften in puncto Integrität wird immer größer und führt zu andauernden Compliance-Risiken.
  • Rechts- und Compliance-Organisationen können dazu beitragen, Unternehmen mit einer Compliance- und Integritäts-Kultur zu unterstützen, die den Mitarbeitenden in den Mittelpunkt stellt.

Der EY Global Integrity Report 20241 hält durchaus gute Nachrichten bereit: Einerseits ist fast die Hälfte (49 Prozent) der Befragten weltweit der Meinung, dass sich die Integritätsstandards in ihrem Unternehmen in den letzten zwei Jahren verbessert haben. Dies bedeutet eine Steigerung um 7 Prozentpunkte im Vergleich zum EY Global Integrity Report 2022.

Jedoch zeigt die Studie andererseits auch:

  • Nahezu vier von zehn Befragten (38 Prozent) weltweit geben an, dass sie bereit wären, sich auf die eine oder andere Art unethisch zu verhalten, um die eigene Karriere zu fördern – mehr als anderthalbmal so viele wie noch bei der letzten Befragung (24 Prozent in 2022).
  • Das Fehlverhalten von Mitarbeitenden wird unmittelbar durch die bei Führungskräften beobachteten Verhaltensweisen beeinflusst – während 25 Prozent der befragten Angestellten angeben, dass sie sich zu ihrem eigenen Vorteil unethisch verhalten würden, steigt diese Prozentzahl bei den befragten leitenden Angestellten auf 51 Prozent und bei den befragten Board-Member sogar auf 67 Prozent.
  • Führungskräfte stehen unter Druck, über Fehlverhalten hinwegzusehen. Nahezu zwei Drittel (65 Prozent) der befragten Board-Member und 57 Prozent der befragten leitenden Angestellten fühlen sich unter Druck gesetzt, Fehlverhalten nicht zu melden.
  • Ein Mangel an Schulung, Sensibilisierung und Ressourcen ebnet Fehlverhalten den Weg. Mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Befragten gibt an, dass Gelegenheiten zu Verstößen gegen Integritätsstandards dadurch entstehen, dass Mitarbeitende Maßnahmen und Anforderungen nicht verstehen und es zudem an internen Ressourcen zur Steuerung von Compliance-Aktivitäten fehlt.

Die Erkenntnisse aus dem EY Global Integrity Report 2024 legen nahe, dass sich die Rollen und Verantwortlichkeiten von Rechtsabteilungen und Chief Compliance Officer (CCOs) erweitern werden: Das bedeutet zusätzliche Anforderungen an das Profil auf der ohnehin schon sehr langen Liste benötigter Kenntnisse und Fähigkeiten, um in einem sich schnell wandelnden Umfeld dicht am Geschehen bleiben zu können.

Lokale Perspektive

Tobias Schumacher, Andreas Pyrcek und Markus Jüttner zu den Ergebnissen des Global Integrity Reports 2024

Tobias Schumacher sieht „die positive Einschätzung der Befragten bezüglich steigender Sicherheits- und Integritätsstandards in Unternehmen als ein starkes Signal. Und dies entspricht auch der Realität: Compliance-Themen werden vom Vorstand und der Geschäftsführung sehr ernst genommen und stehen dort oben auf der Agenda.“ Dies sei aber kein Grund, sich auf diesen positiven Entwicklungen auszuruhen. „Der interne und externe Druck auf Unternehmen und die eigene Mitarbeiterschaft ist weiterhin vorhanden – und er wird vor dem Hintergrund einer schwachen Konjunktur, der immer unübersichtlicher werdenden geopolitischen Weltlage und anhaltenden Cyberbedrohungen eher zu- als abnehmen.“

Whistleblowing-Hotlines auf dem Vormarsch: Der Anteil von Unternehmen, die eine Whistleblowing-Hotline haben, ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Allerdings gibt mehr als die Hälfte der befragten Nutzer (52 Prozent) einer solchen Hotline an, dass sie Druck aus dem eigenen Unternehmen verspüren, dies nicht zu tun.

Hierzu sagt Andreas Pyrcek: „Die Tools, die Unternehmen zur Verfügung stehen, um ihre Mitarbeitenden dabei zu unterstützen, mögliches Fehlverhalten zu melden, werden immer besser. Diese Werkzeuge funktionieren aber nur in einer intakten Unternehmenskultur, in der diese Maßnahmen nicht nur ein Feigenblatt sind. Managerinnen und Manager müssen mit ihren Integritätsmaßnahmen jede Person in der Mitarbeiterschaft erreichen und ihnen das Gefühl geben, sicher zu sein, falls Bedenken bezüglich bestimmter Vorgänge im Unternehmen geäußert werden – ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen.“

Markus Jüttner äußert sich zur Bedeutung unserer aktuellen Studie für die Compliance-Arbeit in Unternehmen wie folgt: „Unsere Studie bietet einen hohen praktischen Mehrwert für die Inhouse-Compliance-Arbeit, indem sie einen eher seltenen Einblick gewährt, was die sogenannte First-Line über die Compliance-Bemühungen und Integritätsmaßnahmen der sogenannten Second-Line tatsächlich denkt. Dabei wissen wir seit Langem, dass die Wirksamkeit von Compliance- und Integritäts-Management-Systemen mehr von der Wahrnehmung der Managerinnen und Manager abhängt als von der formalen Breite und Tiefe der Programme. Ist somit das Glas der Compliance halb voll oder halb leer? Meine Antwort auf diese Frage: Die Sichtweise ist egal, denn es ist unstreitig noch genügend Platz im Glas.“

Die Zahl der Verstöße gegen Integritätsstandards nimmt zu

Jeder fünfte Befragte gibt an, dass es im eigenen Unternehmen in den vergangenen zwei Jahren einen bedeutenden Verstoß gegen Compliance- und Integritätsstandards gegeben hat. Dazu gehören etwa schwerwiegende Betrugsfälle, Verletzungen von Datenschutz- und Datensicherheitsbestimmungen oder andere Verstöße gegen Compliance-Richtlinien. Bemerkenswert: Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) der Befragten geben an, dass Dritte in diese Vorfälle verwickelt waren.

Unternehmen tun sich schwer, komplexe Integritätsrisiken zu meistern
der Befragten weltweit gibt an, dass ihr Unternehmen in den letzten zwei Jahren einen bedeutenden Verstoß gegen Compliance- und Integritätsstandards verzeichnet hat.

Eine für den Zeitraum 2010 bis 20232 durchgeführte Analyse von Unternehmensverstößen in den USA und im Vereinigten Königreich zeigt auf:

  • Seit 2010 wurden (inflationsbereinigt) fast 1 Billion Dollar an Strafzahlungen verhängt, wobei sowohl die Anzahl der Verstöße als auch die Anzahl der Unternehmen, die einen Verstoß begangen haben, um mehr als 40 Prozent gestiegen sind.
  • Die Anzahl bestimmter Verstöße ist seit 2010 um das Doppelte bis Zehnfache gestiegen, darunter Verstöße wie mangelhafte Buchführung, Verstöße gegen Bestimmungen zur Bekämpfung der Geldwäsche (AML) sowie Verstöße gegen Steuervorschriften, Arbeitsrecht und Verbraucherdatenschutz.
  • Auf der anderen Seite gab es einen starken Rückgang von Verstößen.
  • Bei der Vergütung von Mitarbeitenden sowie in den Bereichen öffentliche Sicherheit, Bankwesen und Umwelt, während nur begrenzte Fortschritte bei der Bekämpfung von wettbewerbswidrigem Verhalten, Diskriminierung oder Vergeltungsmaßnahmen gegen Whistleblower festgestellt wurden. Wiederholte Compliance-Verstöße gehen mit einer Erosion der Unternehmenskultur einher. In den Fällen, in denen Unternehmen wiederholt Verstöße begangen haben, wurden systemische Probleme innerhalb ihrer Compliance-Richtlinien oder ihrer Organisation möglicherweise nicht weiterverfolgt oder behoben. Die Anzahl der verschiedenen Arten von Verstößen steigt stetig an. So begeht jedes Jahr eines von vier Unternehmen einen Verstoß und 8,3 Prozent der Unternehmen haben seit 2010 jedes Jahr mindestens einen Verstoß begangen.


Die Kluft zwischen Reden und Handeln bleibt groß

Wie bereits im EY Global Integrity Report 2022 dargelegt, besteht weiterhin eine signifikante Diskrepanz zwischen den Integritätsversprechen von Unternehmen und ihrem tatsächlichen Handeln. Die Ergebnisse der aktuellen Befragung zeigen, dass die Kluft zwischen dem, was Führungskräfte über Unternehmensintegrität sagen (Tone from the Top) und ihrem Verhalten, beziehungsweise dem Verhalten ihrer Mitarbeitenden, seither nicht unbedingt kleiner geworden ist. Dies ist vor allem auf Board-Ebene besorgniserregend.

Eine von oben verordneter Kultur“, bei der getätigte Aussagen nicht zum täglichen Handeln passen, untergräbt nicht nur das Vertrauen innerhalb und außerhalb des Unternehmens, sondern gefährdet auch die Reputation und damit die Unternehmensergebnisse. Einem aktuellen Forschungsergebnis zufolge vernichtet Wirtschaftskriminalität in den USA jährlich durchschnittliche etwa 1,6 Prozent der Unternehmenswerte, was für das Jahr 2021 in der Summe einem Schaden von 830 Milliarden US-Dollar entspricht.3

Unternehmen können mit Integritätsmanagement positiv zum Unternehmenserfolg beitragen

Für ein Unternehmen kann es herausfordernd sein, die Compliance- und Integritätsstandards zu wahren oder zu steigern, besonders in Zeiten, die von schnellem Wandel und schwierigen Marktbedingungen geprägt sind. Jedoch mag dies auch genau der richtige Zeitpunkt sein, der Aufrechterhaltung oder Verbesserung dieser Standards höchste Priorität einzuräumen.

Mit einem agilen Compliance- und Integritätsansatz, der die Individuen in den Mittelpunkt stellt, können Unternehmen mit den sich entwickelnden Gesetzen, Normen und Graubereichen sowie wachsenden gesellschaftlichen Ansprüchen Schritt halten. Ein solcher Ansatz umfasst gezielte Maßnahmen zur Verhaltenssteuerung, fördert eine ausgeprägte Kultur der Compliance und Integrität und stärkt die Verbundenheit zu ethischem Verhalten. Damit können sie gleichzeitig einen positiven Beitrag für das Unternehmen leisten, Prozesse verschlanken, Nachdenken und Handeln erlauben und der gelebten Compliance und Integrität einen besseren Zugang zum Tagesgeschäft ermöglichen.

Facade of the 'Markthal' market Hall in Rotterdam illuminated at dusk. Opened in 2014 it provides cover for 100 stalls and was designed by MVRDV architects
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Chapter #1

Ist Integrität ein gefährdeter Wert?

Unternehmen benötigen bessere Integritätsmanagementkonzepte, um sich das Vertrauen der Stakeholder zu erhalten.

Integritätsstandards zeigen sich aktuell verbessert

In den Schwellenländern sind 58 Prozent der Befragten der Ansicht, dass sich die Einhaltung der Gesetze und Compliance-Vorschriften verbessert hat – eine positive Entwicklung angesichts der inhärenten Integritäts- und Compliance-Risiken in diesen Märkten.

Die Befragten vermuten, dass sowohl eine verbesserte Ausrichtung des Managements und der Führungskräfte auf Compliance- und Integritätsrisiken als auch strengere Vorschriften sowie Druck von Aufsichtsbehörden die wichtigsten Gründe für diese Verbesserung darstellen.

Erschwernisse für eine gelebte Compliance- und Integritätskultur nehmen zu

Die Befragten geben jedoch auch zu, dass zunehmend komplexe, nicht zuletzt auch rechtliche und regulatorische Anforderungen und Rahmenwerke das Leben einer Compliance- und Integritätskultur immer schwieriger machen. Die Studie benennt eine Reihe von entscheidenden Erschwernissen:

  • Externe Risiken: Fast die Hälfte (49 Prozent) der weltweit Befragten empfindet es als schwierig, sich an Geschwindigkeit und Ausmaß von Gesetzes- und Richtlinienänderungen anzupassen. Zudem erschwert wirtschaftlicher Druck durch Inflation, Arbeitslosigkeit und Wechselkurse integres unternehmerisches Handeln. Für die kommenden zwei Jahre erachten die Befragten China, Osteuropa (einschließlich Russland), die USA und Kanada sowie den Nahen Osten und Nordafrika als Regionen mit den größten unternehmerischen Compliance- und Integritätsrisiken.
  • Integritätsrisiko „Mitarbeitende“:  Besonders in Zeiten geopolitischer Unsicherheiten, hoher Inflation und wirtschaftlicher Ungewissheit wird es zunehmend schwieriger, höhere Integritätsstandards im gesamten Unternehmen durchzusetzen - dies betrifft sowohl Mitarbeitende als auch Dritte und die Beteiligten an den eigenen Lieferketten. Wenn Mitarbeitende in ihrem Verhalten oder ihrer Einstellung nicht den Compliance- und Integritätsstandards des Unternehmens entsprechen, erhöht dies das Risiko für die Organisation. Bemerkenswert ist, dass mehr als ein Drittel (38 Prozent) der weltweit Befragten angibt, zu unethischem Verhalten bereit zu sein, wenn eine Führungskraft dazu auffordert.
  • Operative Risiken: Weltweit sehen 40 Prozent der Befragten Datenschutz und -sicherheit als die größten betrieblichen Compliance- und Integritätsrisiken an. Zugleich geben 53 Prozent an, dass die Personalfluktuation und die Überforderung der Mitarbeitenden mit der Vielzahl an Compliance-Anforderungen die größten internen Risiken für die Durchsetzung von Integritätsstandards darstellen.

Bei der Durchführung von Integritäts-, Fraud- und Compliance-Risikoanalysen sollten Unternehmen die Auswirkungen sowohl interner als auch externer Faktoren auf Geschäftsstrategien und betriebliche Aktivitäten sowie den Druck auf Mitarbeitende berücksichtigen. Um eine direkte Verbindung zu solchen Risiken herzustellen und Prioritäten zu definieren, gilt es dabei nicht nur zu verstehen, welche Faktoren zutreffen, sondern auch wie und warum sie zutreffen.


Evening commute with office workers and business people passing a LED illuminated viaduct at La Defense business district in Paris, France.
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Chapter #2

Was ist die Ursache für Fehlverhalten?

Potenziell kompromittierbare Mitarbeitende zeigen unter Umständen kein „natürliches“, sondern erlerntes beziehungsweise rationalisiertes Verhalten.

Die Ergebnisse der Analyse zum besseren Verständnis von begünstigenden und perpetuierenden Faktoren von Fehlverhalten deuten darauf hin, dass – abhängig von der Bereitschaft zu unethischem Verhalten – eine Einteilung von Mitarbeitenden in drei Kategorien erfolgen kann:

  1. „Prinzipientreue Mitarbeitende“ sind weder aus persönlichem Gewinnstreben noch auf Geheiß einer Führungskraft bereit, unethisch zu handeln.
  2. „Potenziell kompromittierbare Mitarbeitende“ sind sowohl aus persönlichem Gewinnstreben als auch auf Geheiß einer Führungskraft bereit, unethisch zu handeln.
  3. „Potenziell Befähigte“ von Fehlverhalten sind auf Geheiß einer Führungskraft bereit, unethisch zu handeln, aber nicht aus persönlichem Gewinnstreben.

Mehr als die Hälfte (58 Prozent) der Angestellten fallen unter die Kategorie der prinzipientreuen Mitarbeitenden. Die Mehrheit neigt also offenbar dazu, eine Kultur der Compliance und Integrität zu leben. Es verbleibt jedoch ein beträchtlicher Rest (42 Prozent), der unter den „richtigen“ Bedingungen bereit ist, ethischem Verhalten eine geringere Priorität einzuräumen. Somit bedarf es geeigneter Anreize und Unterstützung für Mitarbeitende, die den Mut haben, potenzielles Fehlverhalten zu melden, damit solche Verstöße angemessen angegangen und untersucht werden können.

Die aktuelle Forschung zeigt, dass potenziell kompromittierbare Mitarbeitende eine negativere Sicht auf das Compliance- und Integritätsumfeld in ihrem Unternehmen haben. Sie geben weniger häufig an, dass ihre Unternehmen über Systeme, Maßnahmen und Kontrollmechanismen zur Förderung der Integrität verfügen. Stattdessen sagen sie häufiger aus, dass unethisches Verhalten in ihrem Unternehmen oft toleriert wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Angestellten angeben, dass unethisches Verhalten innerhalb ihrer Teams ignoriert wird, ist dreimal höher. Zudem geben sie mehr als fünfmal häufiger als andere an, dass unethisches Verhalten innerhalb der Liefer- oder Vertriebskette ihres Unternehmens ignoriert wird.

Bemerkenswerterweise arbeiten potenziell kompromittierbare Mitarbeitende mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Unternehmen, in denen es innerhalb der letzten zwei Jahre bereits zu einem schwerwiegenden Verstoß gegen Compliance- und Integritätsstandards gekommen ist. Folglich scheint dort das Risikopotenzial für Imageschäden und aufsichtsbehördliche Eingriffe zu steigen.


Für potenziell kompromittierbare Mitarbeitende ist die Verletzung von Integritätsrichtlinien möglicherweise weniger eine Frage der „schlechten“ Veranlagung als vielmehr des erlernten – oder rationalisierten – Verhaltens. Eventuell herrscht hier die Einstellung vor: „Wenn andere das machen, dann kann ich auch damit durchkommen“. Oder: „Wenn es dem Unternehmen egal ist, es notwendig ist oder ich dazu gezwungen werde, wäre ich bereit, mich unethisch zu verhalten“. Grundsätzlich scheint es so zu sein, dass potenziell kompromittierbare Mitarbeitende ihr Verhalten rationalisieren können, weil sie wenig Vertrauen in die Integrität des Unternehmens haben.


Erstaunlich ist auch: Ein erheblicher Anteil der befragten Führungskräfte gibt ebenfalls zu, dass sie bereit wären, sich unethisch zu verhalten. Zwei Drittel (67 Prozent) des befragten Top Managements geben an, durchaus bereit zu sein sich auf die eine oder andere Art unethisch zu verhalten, um die eigene Karriere zu fördern oder ihre Vergütung zu verbessern (im Vergleich zu lediglich 25 Prozent der befragten Angestellten).

Bereitschaft des Managements zu unethischem Verhalten
Das Top Management gibt zu, dass sie bereit wären, sich auf die eine oder andere Art unethisch zu verhalten, um die eigene Karriere zu fördern oder ihre Vergütung zu verbessern.

45 Prozent der Befragten geben als Hauptursache für einen Verstoß gegen die Compliance- und Integritätsstandards einen unangemessenen Tonfall der leitenden Angestellten oder Druck von Seiten des Managements an.

Dieser „unangemessene Tonfall“ und Leistungsdruck spiegelt sich auch in der mangelnden Bereitschaft des Top-Managements wider, sich mit gemeldetem Fehlverhalten auseinanderzusetzen. Zwar gibt immer noch mehr als die Hälfte der Befragten (52 Prozent, gesunken von 59 Prozent im Jahr 2022) an, dass sie in den vergangenen zwei Jahren Fehlverhalten gemeldet haben, doch mehr als zwei Drittel (65 Prozent, gestiegen von 62 Prozent 2022) dieser Befragten sagen, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlten, das Fehlverhalten nicht zu melden.


Fast die Hälfte (47 Prozent) des Top Managements und 40 Prozent der leitenden Angestellten geben an, dass sie in den letzten zwei Jahren Verhalten anderer Mitarbeitenden beobachtet haben, das den Ruf ihres Unternehmens schädigen würde, wenn es außerhalb des Unternehmens bekannt würde und diesbezüglich keine Maßnahmen ergriffen wurden.

Warum ist es wichtig, dass Mitarbeitende ihre Stimme erheben (Speak-up-Kultur), wenn Führungskräfte nicht handeln?

Es ist an den Unternehmen, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Mitarbeitende psychologisch sicher fühlen und darauf vertrauen können, dass ihre Anliegen nicht nur gehört werden, sondern bei Bedarf auch Abhilfe geschaffen wird. Whistleblowing beziehungsweise eine Kultur des offenen Diskurses sind dabei wichtige Werkzeuge in den Händen von Mitarbeitenden, die sich gegen unethisches Verhalten zur Wehr setzen möchten. Sie dienen als entscheidender Schutz vor Korruption, Fraud und anderen Formen des Fehlverhaltens. Laut dem Verband Association of Certified Fraud Examiners (ACFE), werden 43 Prozent aller Betrugsfälle durch Hinweisgeber aufgedeckt, mehr als die Hälfte davon sind Angestellte der betroffenen Unternehmen.

Fehlt ein unterstützendes internes Umfeld, fühlen sich Mitarbeitende unter Umständen eher veranlasst, Fehlverhalten extern zu melden. Hinweisgeber darin zu bestärken, Informationen über unternehmerisches Fehlverhalten weiterzugeben, ist Ziel des 2024 angekündigten Hinweisgeber-Pilotprogramms des US-amerikanischen Justizministeriums. Zusätzlich zu anderen Hinweisgeber-Programmen in den USA und weltweit kann dies den Druck auf Unternehmen erhöhen, ihre Mitarbeitenden zu ermutigen, Fehlverhalten über interne Kanäle zu melden. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass Unternehmen vertrauenswürdige interne Hinweisgebersysteme entwickeln und implementieren, die von Mitarbeitenden auf allen Ebenen des Unternehmens ohne Angst vor Vergeltung genutzt werden können. Diesbezüglich konnten auch in der EU mit der aktiven Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie, welche auch in Deutschland im Rahmen des Hinweisgeberschutzgesetzes umgesetzt wurde, Fortschritte verzeichnet werden.

Communicator (the Nightingale)
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Chapter #3

Was ist Ihr Integritätskonzept?

Unternehmen verfolgen in der Regel einen von vier Ansätzen im Hinblick auf ihre Integritätskultur.

Die Daten aus dem EY Integrity Report 2024 sowie eine tiefergehende Analyse der Unternehmensrichtlinien und -systeme zeigen, wie oft die Geschäftsführung das Thema Integrität anspricht. Aus diesen Erkenntnissen lässt sich ableiten, dass Unternehmen in der Regel einen der vier nachfolgenden Ansätze in ihrer Integritätskultur verfolgen:

 

  1. Integrity-first-Ansatz: Verfolgen Unternehmen einen Ansatz, der dem Thema Integrität eine hohe Priorität zuweist, spricht die Unternehmensleitung nicht nur häufig über deren Bedeutung, sondern untermauert ihre Worte auch mit Taten, indem sie entsprechende Maßnahmen und Programme implementiert. Anders ausgedrückt: Die Unternehmensleitung beseitigt die Kluft zwischen Reden und Handeln. Lediglich 22 Prozent der Unternehmen fallen aktuell in diese Kategorie – im Gegensatz zu 32 Prozent im vorherigen EY Integrity Report.
  2. Richtliniengesteuerter Ansatz: Die Geschäftsleitung von 23 Prozent der Unternehmen (zuvor 17 Prozent) wählte einen richtliniengesteuerten Ansatz. Dabei wird eine Reihe von Richtlinien und Systemen zur Förderung der Integrität und Erfüllung von Compliance-Verpflichtungen eingesetzt, ohne diesen tatsächlich oberste Priorität einzuräumen.
  3. “Tone from the Top“-Ansatz – Kluft zwischen Reden und Handeln: In diesen Unternehmen sprechen leitende Angestellte zwar häufig über Integrität, setzen jedoch keine entsprechenden Maßnahmen und Programme um. Etwas weniger als die Hälfte (49 Prozent) der Unternehmen verfolgen diesen Ansatz — ungefähr genauso viele, wie zum Zeitpunkt des vorherigen EY Integrity Reports (47 Prozent).
  4. Kein Ansatz bzw. keine Integritäts-Strategie: Für 5 Prozent der Unternehmen hat die Förderung der Integrität bemerkenswerterweise keinerlei Priorität. Dieser Wert ist seit dem letzten EY Integrity Report jedoch weitgehend unverändert geblieben.

Der im Vergleich zum letzten EY Integrity Report sinkende Anteil von Unternehmen, die dem Thema Integrität einen hohen Stellenwert beimessen, könnte mit der steigenden Anzahl von Unternehmen korrelieren, die einen richtliniengesteuerten Ansatz verfolgen. Möglicherweise ist ein Teil der Letzteren der Auffassung, dass nun – aufgrund der von ihnen zwischenzeitlich eingeführten und nun verfügbaren Integritätsrichtlinien bzw. -programme – weniger Kommunikation zu dem Thema Integrität erfolgen und man der Umsetzung von Integritätsmaßnahmen weniger Aufmerksamkeit widmen müsse.

Es scheint so, dass sich diese Unternehmen von ihrer Vorreiterrolle beim Thema Integrität verabschiedet haben und diese zugunsten einer verstärkten Fokussierung auf die Steuerung ihrer Unternehmen durch ein volatileres wirtschaftliches Umfeld zurückstellen. Doch gerade in schwierigen Zeiten ist eine Priorisierung des Themas Integrität überaus entscheidend. Unternehmen sollten danach streben, hier die kritische Schwelle zu überschreiten – in guten wie in schlechten Zeiten.


Vier Wege zum Aufbau eines Integrity-first Unternehmens, bei dem die Person im Mittelpunkt steht

Lautet das gesetzte Ziel, Integrität eine hohe Priorität einzuräumen, stellt sich Führungskräften die Frage nach dem „wie“.

Es ist von grundlegender Bedeutung, dass die Person im Zentrum der Compliance- und Integritätsagenda steht, denn sowohl Mitarbeitende als auch die Führungsebene prägen maßgeblich die Integrität einer Organisation und können gleichzeitig der größte potenzielle Risikofaktor in diesem Bereich darstellen. Hierzu sind die Einführung unterstützender Rahmenbedingungen und Strukturen sowie die Schaffung einer Integrity-first Kultur erforderlich, die ein entsprechendes positives Verhalten und starkes Engagement für Integrität fördert. Für Rechtsabteilungen (GCOs) und Chief Compliance Officer (CCOs) gibt es vier Wege, solch eine Kultur in ihrem Unternehmen zu fördern:

1. Mit gutem Beispiel vorangehen

Unsere Daten zeigen, dass eine Integritätskultur nicht nur durch Kommunikation aufgebaut bzw. aufrechterhalten werden kann. Es ist zwingend notwendig, nicht nur über eine Integritätskultur zu sprechen, sondern auch danach zu handeln. Diese Notwendigkeit beginnt an der Spitze des Unternehmens, wenn es darum geht Fehlverhalten zu verhindern und einzudämmen. GCOs und CCOs sollten in Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung nicht nur für integres Verhalten auf nachgelagerten Hierarchieebenen werben oder diese dazu ermutigen. Es ist vielmehr entscheidend, dass sie selbst stets ein solches Verhalten vorleben.

Das Gleiche trifft auf die Schaffung von Strukturen für Berichte und Sonderuntersuchungen zu: Es reicht nicht aus, sie nur einzurichten. Sie müssen vor allem von den Führungskräften und der Unternehmensleitung befolgt und unterstützt werden. Um die Kluft zwischen Reden und Handeln zu schließen, ist es essenziell, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Mitarbeitende nicht nur selbst integer verhalten, sondern auch bereit sind, beobachtetes Fehlverhalten zu melden oder selbst einzugreifen. Je häufiger Mitarbeitende sehen, dass Führungskräfte sich in solchen Fällen für sie einsetzen und konkrete Maßnahmen ergreifen – und es nicht zu Vergeltungsmaßnahmen gegenüber dem Hinweisgeber kommt – desto eher werden sie auch zukünftig bereit sein, beobachtetes Fehlverhalten zu melden.

2. Geeignete Strukturen zur Umsetzung der Strategie entwickeln und implementieren

Struktur folgt Strategie – dagegen kann eine Strategie ohne Struktur die Effektivität eines unternehmerischen Integritätsprogramms beeinträchtigen. Unternehmen müssen daher stabile Governance-Strukturen etablieren, die

  • mit den innerhalb der Organisation definierten Rollen und Verantwortlichkeiten im Einklang stehen,
  • klare Rechenschaftspflichten anhand von Leistungsindikatoren (KPI – Key Performance Indicator) und Verhaltensindikatoren (KBI – Key Behavioural Indicator) festlegen,
  • Silodenken durchbrechen und den Informationsfluss an die relevanten Stellen und Stakeholder ermöglichen („aligned assurance and governance“) und
  • Vertrauen durch Transparenz schaffen.

Zudem müssen – anstatt potenziell kompromittierbaren Mitarbeitenden die Schuld zuzuweisen – mittels Ursachenanalyse die tatsächlichen Hintergründe von Fehlverhalten ermittelt werden, um systemische Schwachstellen aufzudecken.

3. Die unternehmensweite Integritätskultur stärken

Unternehmen müssen erkennen, dass das Thema Integrität Teamarbeit ist. Die unternehmensinterne Compliance sollte daher nicht als reine Unterstützungsfunktion betrachtet werden, sondern vielmehr müssen Compliance- und Integritätsstandards direkt in die Unternehmensabläufe und -prozesse integriert werden.  GCOs und CCOs sollten gemeinsam mit der Unternehmensleitung daran arbeiten, unternehmensweit standardisierte KPI und KBI bei der Leistungsbeurteilung und der Vergütung heranzuziehen. Das umfasst Vergütungsstrukturen, die Mitarbeitende für ihre Integritätsanstrengungen belohnen, anstatt sie für Fehlverhalten oder Non-Compliance zu sanktionieren. Die Hälfte der Befragten spricht sich ausdrücklich gegen Vergütungsstrukturen aus, die Compliance-Verstöße bestrafen. Gleichfalls sollten Steuerungskennzahlen stärker auf eine positive Verstärkung integren Verhaltens ausgerichtet sein.

4. Sensibilisieren, schulen und besser kommunizieren

Die nächsten zwei Jahre stehen eine stärkere Sensibilisierung, verbesserte Schulungen und Kommunikation, robustere Compliance-Prozesse, Verbesserungen der Corporate Governance und Mitarbeiterführung zur Eindämmung von Integritätsrisiken ganz oben auf der Agenda der befragten Unternehmen.

Anstatt ihren Mitarbeitenden zu sagen, was sie zu tun haben, um Vorschriften einzuhalten, müssen Führungskräfte ihnen klar vermitteln, weshalb integres Verhalten wichtig ist. Derzeit sprechen weniger als die Hälfte (47 Prozent) der Führungskräfte regelmäßig mit Ihren Mitarbeitenden über die Wichtigkeit eines solchen Verhaltens. Verstehen Mitarbeitende jedoch Sinn und Zweck der von ihnen geforderten Verhaltensweise besser, sind sie eher bereit den Vorschriften zu folgen.

Integrität schafft Vertrauen

Integrität ist eine essenzielle Voraussetzung für Vertrauen. Fehlt das Vertrauen von Mitarbeitenden, Kunden, Lieferanten und Investoren bedroht dies die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens.

Unternehmen können eine auf Integrität ausgerichtete Organisation aufbauen, indem sie die schwerwiegenden Folgen von potenziellem Fehlverhalten als ernsthaftes Problem anerkennen. Durch proaktive Schritte zur Verhinderung, Aufdeckung und Reaktion schaffen sie eine robuste Kultur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und von einem starken Engagement der Unternehmensführung sowie der verlässlichen Unterstützung der Mitarbeitenden getragen wird.

Ein erfolgreiches Integritäts- und Compliance-System beginnt – endet jedoch nicht – bei der Geschäftsführung und den Führungskräften, die den Ton für eine Kultur angeben, in welcher Fehlverhalten nicht toleriert wird.

Dabei reichen Worte allein nicht aus, um Loyalität zu oder gar Beteiligung an solch einer Kultur zu erzeugen. Führungskräfte sind daher gefordert zuzuhören, zu praktizieren, was sie predigen, und gegen erkanntes Fehlverhalten vorzugehen.

Einige potenziell kompromittierbare Mitarbeitende wird es immer geben. Dennoch können Unternehmen durch eine Integrity-first Kultur ein Umfeld schaffen, das ihr Wertesystem widerspiegelt. Ein Umfeld, in dem das Richtige ganz selbstverständlich auch in Zeiten von Widrigkeiten und Unsicherheit getan wird. Dabei helfen Anreizsysteme, um Mitarbeitende zu ermutigen, auch in unbeobachteten Momenten integer zu handeln.


EY Global Integrity Report

Kein Vertrauen ohne Integrität.

Fazit

Der rasche Wandel, die anhaltende makroökonomische und geopolitische Unsicherheit sowie das verschärfte regulatorische Umfeld machen es für Unternehmen immer schwieriger, integer zu handeln. Die Ergebnisse des EY Global Integrity Report 2024 zeigen jedoch, dass nicht externe Risiken, sondern die Unternehmenskultur die größte Bedrohung für das Thema Integrität darstellt. Der Bericht verdeutlicht, dass die Lücke zwischen Tone from the Top und dem wirklichen Handeln von Führungskräften dringend geschlossen werden muss. Und er zeigt auf, mit welchen Maßnahmen Unternehmen dieses Ziel erreichen können.

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