Team bei der Arbeit in einem Coworking Space

DE&I im Europavergleich: Bilanz eines Trends

Woran es in Sachen DE&I (immer noch) mangelt und was wir von den Besten lernen können. Interview mit Ev Bangemann und Carina Boateng.


Überblick

  • Die Studie zeigt: Inklusive Kulturen, in denen echte Chancengleichheit gelebt wird, scheinen weiterhin mehr Wunsch als Realität.
  • Nur 30 % der Führungskräfte gehören unterrepräsentierten Gruppen an, bei den nicht leitenden Angestellten sind es 61 %.
  • Europäische Unternehmen schneiden bei DE&I mit durchschnittlich 5,69 von 10 Punkten nicht gut ab, die Schweiz am besten, Deutschland am schechtesten.

Studienleiterin Carina Boateng, DE&I-Programmleiterin EY Europe West, im Gespräch mit Ev Bangemann, Studienleiterin und DE&I-Programmleiterin EY Europe West.

Frau Bangemann, warum haben Sie sich entschieden, das Studienvorhaben zu unterstützen und worum genau geht es?

Als Verantwortliche für DE&I in unserer Region habe ich ein sehr persönliches Interesse daran, nicht nur die fortlaufenden Diskussionen im Unternehmen zu unterstützen, sondern auch darüber hinaus einen positiven Beitrag zur DE&I-Thematik zu leisten. Dieses immer weiter vertiefende Verständnis finde ich ermutigend, besonders in Zeiten, in denen man eine gewisse „Diversity Fatigue“ zu verspüren scheint und es gerade deshalb viel nötiger ist, an diesem Thema dranzubleiben. Daher habe ich kaum zögern müssen, das Studienvorhaben zu unterstützen.

Das genaue Untersuchungsvorhaben haben wir in Kooperation mit dem Forschungsinstitut der Financial Times durchgeführt und in neun verschiedenen Ländern insgesamt 1.800 Personen aus unterschiedlichen Sektoren und Unternehmensgrößen befragt. Das Kernthema der Studie ist die noch existierende, relevante Diskrepanz in der Wahrnehmung von DE&I zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften. Dabei haben wir uns mit zwei Hauptfragen beschäftigt: Wie äußert sich diese Lücke? Und warum bleibt sie bestehen? Anschließend haben wir Unternehmen, die in Sachen DE&I erfolgreicher sind, genauer unter die Lupe genommen, um zu verstehen, was sie anders machen und wie sowohl das Unternehmen selbst als auch die Mitarbeitenden davon profitieren können. Es war und ist uns wichtig, diese neuen Erkenntnisse für eine positive und inklusive Unternehmenskultur nutzbar zu machen.

Das bemerkenswerte Ergebnis unserer Arbeit ist die Entstehung der European DE&I-Index-Studie. Im Vergleich von Unternehmen mit hohen DE&I-Index-Werten und solchen mit niedrigen Werten konnte der positive Business Case von DE&I erneut bestätigt werden. Unsere Studie schafft dabei konsequent nachvollziehbare, klare Fakten und Erkenntnisse. Diese Fakten wie etwa Kundenloyalität (71 % vs. 51 %) oder Resilienz (77 % vs. 40 %) können direkt in finanzielle Werte umgerechnet werden. Für mich steht fest, DE&I erhöht den Wert eines Unternehmens und reduziert Opportunitätskosten. In Zeiten, in denen die allgemeine Kaufkraft sinkt und viele Unternehmen sich großen Herausforderungen stellen müssen, sind beide Beispiele von unschätzbarem Wert.

Eine zentrale Erkenntnis ist dabei, dass es nicht unbedingt großer Anstrengungen bedarf, um signifikante Veränderungen herbeizuführen. Tatsächlich können kleine, aber bedachte und effektive Maßnahmen eine bedeutende, ausschlaggebende Rolle spielen. Das Allerwichtigste daran ist jedoch, dass diese Maßnahmen nicht ad hoc oder unreflektiert umgesetzt werden sollten. Sie erfordern vielmehr ein hohes Maß an Konsequenz, Konsistenz und vor allem Commitment. Nur so kann langfristig eine wirklich inklusive Arbeitskultur geschaffen werden, die für alle Beteiligten Vorteile bringt und einen positiven Einfluss auf das Unternehmen hat.

Es braucht nicht viel, um echte Veränderung zu erzielen, aber das, was getan wird, braucht Konsequenz, Konsistenz und Commitment.

EY European DE&I Index 2024

Bei DE&I sind Unternehmen noch nicht am Ziel. Ergebnisse des EY European DE&I Index mit 1.800 Befragten in neun Ländern.

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Welche Erkenntnisse werden Ihnen nachhaltig in Erinnerung bleiben?

Diversität muss „oben“ beginnen

Es ist auch klar, dass wir auf Führungsebene eine größere Vielfalt brauchen. Derzeit gehören nur 30 % der Führungskräfte einer unterrepräsentierten Gruppe an, bei den nicht leitenden Angestellten sind es 61 %. Vielfalt in der Führung wirkt sich jedoch positiv auf die Unternehmenskultur und die DE&I-Bemühungen aus, wie zum Beispiel die Erhöhung der flexiblen Arbeitsmöglichkeiten zeigt.

Wir scheitern nach wie vor daran, DE&I ganzheitlich zu betrachten

Ein Viertel der Unternehmen hat noch keine Schritte zur Verbesserung der kulturellen Vielfalt unternommen und 36 % haben noch keine Maßnahmen zur Förderung der LGBTQIA+-Diversität eingeleitet. Dies ist alarmierend und zeigt, dass Vielfalt in einigen Unternehmen noch nicht ausreichend priorisiert wird.

Ein Alarmsignal: Die DE&I-Maßnahmen kommen nicht da an, wo sie gebraucht werden

Erschreckend ist, dass deutlich weniger als die Hälfte der nicht leitenden Angestellten (42 %) ihr Unternehmen in vielen Dimensionen der Vielfalt als „gut“ bewertet, im Gegensatz zu zwei Dritteln (60 %) der Befragten in leitenden Positionen. Hinzu kommt, dass die Werte noch einmal weiter auseinanderklaffen, wenn man sich nur die unterrepräsentierten Gruppen ansieht. Genau da, wo DE&I am notwendigsten wäre, verfehlen die Maßnahmen demnach ihre Wirkung, mit negativen Konsequenzen für alle Mitarbeitenden und das Unternehmen.

Der Wert der Freiheit funktioniert nur, wenn alle davon profitieren

Ein Drittel der nicht leitenden Angestellten gab an, diskriminierendes Verhalten erlebt zu haben, sowohl durch Vorgesetzte als auch durch Kolleg:innen. Besonders hervorzuheben ist, dass sich ausgerechnet die Gruppe, die am meisten von Diskriminierung betroffen ist, am wenigstens darin befähigt sieht, diese auch zu berichten. Dazu passt, dass sich nicht leitende Angestellte, die einer unterrepräsentierten Gruppe angehören, auch in Alltagssituationen der Arbeit weitaus seltener trauen, ihre Meinung oder Sichtweise klar zu äußern.

Deutschland – ein Fortschritt, der keiner zu sein scheint

Unabhängig von Erfolgen im Bereich DE&I ragt Deutschland in unserer Erhebung in einigen Bereichen negativ heraus. Insbesondere in Bezug auf die Bewertung von Unternehmensansätzen zur ethnischen oder sozialen Herkunft gibt es noch großen Nachholbedarf. Auch bei der oftmals debattierten Umsetzung von Maßnahmen zur Förderung der Geschlechtervielfalt fällt Deutschland im Europavergleich ab.

Diese Erkenntnisse zeigen eindeutig, dass der Weg zu einer inklusiven Kultur für viele Unternehmen noch recht weit ist. In Anbetracht der positiven Indikationen für den Unternehmenswert könnte das doch ein Anstoß sein, oder?

Tatsächlich ist gerade das Gegenteil der Fall. Momentan steigen weltweit die Erfahrungen rund um ein Phänomen, das als „Diversity Fatigue“ bezeichnet wird. Dabei werden Gegenstimmen lauter, erzielte Erfolge in Abrede gestellt, Diversity als Luxusproblem abgetan.

„Diversity Fatigue“ ist ein Ausdruck, der genutzt wird, um das Phänomen zu beschreiben, bei dem Mitarbeitende und Führungskräfte desensibilisiert, desinteressiert und müde von Diversity- und Inklusionsbemühungen werden. Diese Erschöpfung kann verschiedene Ursachen haben. Beispielsweise kann es sein, dass die Unternehmen eine Vielzahl von Diversitätsmaßnahmen schnell und ohne ausreichende Planung einführen. Damit können sie Widerstände hervorrufen und die Bereitschaft zur Teilnahme oder Unterstützung solcher Maßnahmen verringern. Um dem entgegenzuwirken, ist es unabdingbar, Vielfalt und Inklusion nicht als isolierte Projekte zu behandeln, sondern als integrale Bestandteile der Unternehmensstrategie, wobei sowohl die Führungsebene als auch die Belegschaft eingebunden sein sollten.

Dem gegenüber steht zurzeit leider die Herausforderung auf emotionaler Ebene. Unsere eigenen Studien haben die positiven Effekte von Diversität bestätigt. Weitere Erkenntnisse zeigen, dass diverse Teams in einer Vielzahl von Bereichen, einschließlich Innovation, Problemlösung und allgemeiner Teamleistung, überlegen sind. In Zeiten komplexer Herausforderungen unterstreicht dies zwar die Notwendigkeit der Implementierung von Diversitätsmaßnahmen, macht diese jedoch nicht selbstverständlich. Sowohl das Anerkennen dieser Erkenntnisse als auch das Ergreifen entsprechender Maßnahmen erfordern Offenheit – eine Offenheit, die durch anhaltende Krisen wie Kriege, Energiekrisen und Umweltkatastrophen gerade geschmälert ist. Denn Offenheit braucht eine Menge kognitiver Ressourcen.

Die Theorie des „cognitive load“ kann eine Erklärung dafür liefern, warum in Zeiten erhöhter Belastung oder Stress die Tendenz besteht, sich auf vertraute und beständige Muster zu besinnen, was sich in einer erhöhten Intoleranz äußern kann. Auf das Bekannte und relativ Sichere zu setzen, anstatt innezuhalten und Ressourcen in die Verwirklichung von Diversity zu investieren, diese Tendenz ist gerade besonders zu beobachten.

So ist zumindest teilweise zu erklären, warum bereits erzielte Erfolge in Abrede gestellt werden. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Gender Equity. Trotz der Tatsache, dass viele Unternehmen ihre Anstrengungen auf die Schaffung von Geschlechtergerechtigkeit gerichtet haben, gibt es derzeit eine zunehmende Anzahl Stimmen, die eine Verschiebung hin zur Diskriminierung von Männern sehen und lautstark dafür plädieren, jegliche weiteren Bemühungen zur Aufrechterhaltung und Verbesserung des Status quo fallen zu lassen.

Diversity Fatigue ist ein Ausdruck, der genutzt wird, um das Phänomen zu beschreiben, bei dem Mitarbeiter und Führungskräfte desensibilisiert, desinteressiert und müde von Diversity- und Inklusionsbemühungen werden.

Wieso ist es dennoch wichtig dranzubleiben?

Es ist unerlässlich, die Bemühungen rund um DE&I aufrechtzuerhalten, um die Anerkennung und Wertschätzung der Vielfalt im Unternehmen und darüber hinaus zu fördern, auch wenn es Widerstand gibt oder Fatigue eintritt. Die positive Wirkung von Diversität und Inklusion auf den Unternehmenswert ist unbestreitbar und es ist wichtig, diese Botschaft weiterhin zu kommunizieren und einzuschärfen.

Ein effektiver Ansatz gegen Diversity Fatigue könnte es sein, eine nachhaltige und langfristige Diversitätsstrategie zu implementieren, die sowohl Top-down- als auch Bottom-up-Initiativen und ein klares Bekenntnis des Managements zur Diversität und Inklusion beinhaltet. Wichtig wäre hierbei die Verankerung in der Unternehmensstruktur, die auch dann Bestand hat, wenn weniger Ressourcen zur Verfügung stehen.

Warum genau jetzt?

In einer immer komplexeren und heterogeneren Gesellschaft ist es unabdingbar, dass unsere Unternehmen ein Spiegelbild der Vielfalt darstellen. Nur so sind sie in der Lage, sowohl die Chancen als auch die Herausforderungen unserer Zeit adäquat zu berücksichtigen.

Es ist längst erwiesen, dass Unternehmen, in denen Diversität und Inklusion gefördert werden, erfolgreicher sind als diejenigen, die dies nicht tun. Sie profitieren von mehr Innovationskraft, da unterschiedliche Perspektiven zu neuen Ideen anregen und somit eine bessere Problemlösung ermöglichen. Wenn jedoch beispielsweise Frauen nicht gleichberechtigt in das Arbeitsleben einbezogen werden, entstehen enorme Kosten. Laut einer Studie von McKinsey könnte die globale Wirtschaft bis 2025 um 12 Billionen US-Dollar wachsen, wenn die Geschlechterunterschiede im Arbeitsmarkt beseitigt würden.

Des Weiteren dürfen wir nicht vergessen, dass jedes Unternehmen auch eine soziale Verantwortung trägt. Die Art und Weise, wie Unternehmen ihre Mitarbeitenden behandeln und respektieren, hat direkten Einfluss darauf, wie sie in ihrer Umgebung wahrgenommen werden und beeinflusst die gesamte Gesellschaft.

Ein Verlust an Toleranz führt nicht nur zu Nachteilen für diskriminierte Gruppen, sondern hat allumfassende negative Auswirkungen. Diskriminierung und Ausgrenzung führen zu sozialem Unfrieden und stiften Konflikte.

Für mich steht fest: Nach der Digitalisierung steht die Geschäftswelt nun vor einer neuen großen Herausforderung: dem Übergang zu einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell. Die Umstellung auf nachhaltige Geschäftspraktiken erfordert gründliche Überlegungen, gezielte Strategien und vor allem neue, innovative Denkweisen. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, traditionelle Geschäftsmodelle zu überdenken und neue Wege zu finden, um ökologisch nachhaltig zu produzieren und zu operieren. Gleichzeitig müssen sie wirtschaftlich wettbewerbsfähig bleiben und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Diversität und Inklusion können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, diese Herausforderungen zu meistern.

Die Förderung von Diversität und Inklusion kann dazu beitragen, dass Unternehmen auf ein breiteres Wissen und eine Vielzahl von Perspektiven zugreifen können. Nachhaltigkeit hat viele Facetten: ökologische, soziale, wirtschaftliche – unterschiedliche Hintergründe, Fachkenntnisse und Erfahrungen stiften genau jetzt immensen Wert.

Die Balance zwischen der vielschichtigen Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Rentabilität zu finden ist eine komplexe Aufgabe, die neue Denkweisen erfordert. Hier kommt das Potenzial von vielfältigen, inklusiven Teams ins Spiel: Sie ermöglichen eine größere Bandbreite an Ideen und Lösungen und tragen zur Entwicklung zukunftsfähiger Geschäftsmodelle bei. Um also auf das Zeitalter nach der Digitalisierung erfolgreich reagieren zu können, sollten Unternehmen Diversity, Equity und Inclusion (DE&I) als integralen Bestandteil ihrer Unternehmensphilosophie etablieren und aktiv fördern. Aber DE&I sollte nicht nur in der Unternehmenskultur, sondern auch in der Geschäftsstrategie verankert sein und sich in nachhaltigen, zukunftsorientierten Entscheidungen und Praktiken spiegeln.

Ein Verlust an Toleranz führt hierbei nicht nur zu Nachteilen für diskriminierte Gruppen, sondern hat allumfassende, negative Auswirkungen. Diskriminierung und Ausgrenzung führen zu sozialem Unfrieden und stiften Konflikte.

Wo könnten Unternehmen beginnen? Welche Erkenntnisse gibt die Studie dazu?

Fazit

In einer neuen Studie, dem European DE&I Index, wurden 1.800 Personen aus verschiedenen Sektoren und Länder befragt. Trotz positiver Wirkungen von DE&I erleben viele Unternehmen eine Stagnation des Fortschritts. Über die Gründe und langfristige Lösungen gibt die neue Studie Aufschluss. Offenbar ist es nötig, dass Unternehmen DE&I nicht als isolierte Projekte betrachten, sondern als Teil der Unternehmensstrategie. Ein besonderer Fokus sollte dabei auf dem Engagement der Führungsebene liegen. Ev Bangemann warnt vor den Folgen, die eine Negation der Diversität bedeuten würde, und weist auf die soziale Verantwortung der Unternehmen hin.

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