A) Ein Übergang zu aktualisierbaren SDVs ist für die Automobilhersteller von entscheidender Bedeutung, um die sich ständig weiterentwickelnden gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen
Die Verschärfung der weltweiten Vorschriften, insbesondere in den Bereichen Safety, Cybersicherheit und CO2-Reduzierung, zwingt die Automobilhersteller dazu, ihre Fahrzeuge mit mehr Funktionen auszustatten. Viele dieser Vorschriften entwickeln sich weiter, allerdings in unterschiedlichem Tempo und mit unterschiedlichen Einschränkungen in den verschiedenen Ländern. Infolgedessen nimmt die Komplexität heutiger Fahrzeuge immer schneller zu, verbunden mit der Unsicherheit, was genau wann und wo benötigt wird. Darüber hinaus kann keiner dieser Aspekte isoliert behandelt werden – eine Umstellung auf Systemebene ist erforderlich.
Beispiel Cybersicherheit: Wenn es nur einen sehr begrenzten Fernzugriff auf Fahrzeuge gibt, ist alles in Ordnung. Aber mit den neuen Vorschriften für CSMS (Cyber Security Management Systems) und SUMS (Software Update Management Systems) kann der Fernzugriff viel tiefer in das Fahrzeug reichen – und neue Risikofaktoren für die Nutzer schaffen. Es ist eine grundlegend neue Fahrzeugarchitektur erforderlich, die softwaredefiniert sein muss, um sich an die
Sicherheitsanforderungen in verschiedenen Regionen anpassen und dynamisch mit Unsicherheitsfaktoren umgehen zu können.
Doch die Automobilhersteller sehen sich nicht nur mit immer neuen Vorschriften konfrontiert, die sie zunehmend dazu zwingen, ihre Architekturen und die entsprechenden Prozesse neu zu gestalten, sie müssen sich auch mit neuen Technologien, veränderten Kundenerwartungen und neuen, schnelleren Markteintritten auseinandersetzen. Die Automobilhersteller müssen daher die Vorteile der SDV-Transformation sorgfältig abwägen, die damit verbundenen Risiken analysieren und geeignete Strategien ableiten, um einerseits Überreaktionen (d.h. hohe Investitionen ohne Mehrwert) zu vermeiden, andererseits aber (und das ist noch wichtiger) die Herausforderung nicht zu unterschätzen oder zu wenig und zu spät zu tun. Werfen wir einen genaueren Blick darauf.
B) Einsparungen und Effizienzen, die durch eine SDV-Transformation für Automobilhersteller erzielt werden können
Der Übergang von hardware- zu softwaredefinierten Fahrzeugen ermöglicht den Automobilherstellern Einsparungen und Effizienzsteigerungen, vor allem im Hinblick auf die Reduzierung der Komplexität, die Erhöhung der Lieferfähigkeit softwareintensiver Fahrzeuge und die Steigerung der Flottenqualität.
Um die zunehmende Komplexität zu reduzieren, müssen die Automobilhersteller eine langfristige Softwareplattform und -architektur definieren und umsetzen
Die große Herausforderung für die etablierten SDV-Hersteller besteht darin, dass die Fahrzeuge mehrere verschiedene Softwareplattformen beinhalten – von Advanced Driver Assistance Systems (ADAS) bis Infotainment –, die alle ihre eigene Komplexität mitbringen, von verschiedenen Anbietern bereitgestellt werden können und als integriertes Ganzes zusammenspielen sollen. In der Regel sind mehr als 100 Millionen Codezeilen und mehr als 100 Steuereinheiten (ECUs) erforderlich. Diese Komplexität übersteigt oft die Möglichkeiten der OEMs. Der Einsatz zusätzlicher Entwicklungs- und Integrationsressourcen erhöht zudem die Kosten, beschleunigt aber nicht die Entwicklung.
Um der Komplexitätsfalle zu entkommen, sollten OEMs einen Schritt zurücktreten und sorgfältig überlegen, wo die Allokation zusätzlicher Entwicklungsressourcen zu Fortschritten führen könnte – und wo unter Umständen ein Neuanfang, ein „Tabula rasa“-Ansatz, sinnvoller ist. Grundlage ist eine in Hardware, Software und Middleware unterteilte Plattformarchitektur, die eine flexible Softwarebereitstellung und -aktualisierung ermöglicht. Organisatorische Altlasten, Komplexität und mangelnde Erfahrung werden durch einen softwarezentrierten Ansatz schrittweise überwunden. Es wird einige Zeit dauern, bis die Automobilhersteller von der Softwareentkopplung und der Möglichkeit, Software in größerem Umfang unabhängig von der Hardware in ein Fahrzeug zu integrieren, profitieren können.
In diesem Prozess verlagert sich auch die Zusammenarbeit zwischen OEMs und Zulieferern weg von der projektbasierten Entwicklung und hin zu groß angelegten Plattformen (einschließlich Open Source), die über verschiedene Marken und Modelle hinweg wiederverwendet werden können. Um diesen Paradigmenwechsel zu bewältigen, benötigen OEMs eine stabile, langfristige Architektur-Roadmap. Der Fokus dieser Roadmap sollte auf Funktionen mit Alleinstellungsmerkmal, Software- und Systemintegration und auf der Integration von Open-Source-Lösungen für die Teile des SDV ohne Alleinstellungsmerkmal liegen.
Die konsequente Entkopplung von Hard- und Software ist die Grundlage für die termingerechte Lieferfähigkeit softwareintensiver Fahrzeuge
Betrachtet man die aktuellen SDV-Aktivitäten der OEMs, stellt man fest, dass sich die Markteinführung von Fahrzeugen aufgrund von Softwareproblemen oder Diskrepanzen zwischen Plattformreife und geplantem Produktionsstart (SOP) verzögert. SOP-Verzögerungen haben erhebliche finanzielle Verluste für die OEMs zur Folge. Daher ist es von größter Bedeutung, sich auf eine zuverlässige Lieferfähigkeit für softwareintensive Fahrzeuge zu konzentrieren. Neben den im vorherigen Abschnitt beschriebenen grundlegenden Aspekten gibt es weitere Herausforderungen, z. B. zu starkes Feature-first-Denken, zu späte Tests sowie zu geringe Virtualisierung und Autonomisierung. Darüber hinaus werden gegenseitige Abhängigkeiten häufig unterschätzt.
Für OEMs ist es wichtig, Hard- und Software auf allen SDV-Ebenen strikt zu entkoppeln. Dies muss Teil der Top-Management-Agenda und der Portfoliomanagementprozesse sein, nach dem Motto: „Keine neuen Dienste ohne Plattformkompatibilität!“ Es braucht eine hohe Stabilität der hardwarebezogenen Funktionen und robuste, unabhängige Upgrade-Zyklen und Geschwindigkeiten, auch nach Produktionsstart. Dies bedeutet, dass es besser ist, ein gut funktionierendes und getestetes Fahrzeug pünktlich und im Rahmen des Budgets auf den Markt zu bringen, auch wenn einige Funktionen zum Zeitpunkt des SOP nicht (oder nur eingeschränkt) verfügbar sind, weil man weiß, dass diese Funktionen später durch Software-Updates zuverlässig hinzugefügt oder verbessert werden können. Insbesondere im nicht sicherheitsrelevanten Bereich ist hier auch eine Abkehr von der in der Automobilindustrie verankerten „Perfektionslösung“ zugunsten einer stärkeren „Good enough“-Einstellung mit inkrementeller Verbesserung (wie in der Softwareindustrie üblich) erforderlich.
Die Updatefähigkeit aller SDV-Funktionalitäten ist entscheidend für die Aufrechterhaltung der Flottenfeldqualität softwareintensiver Fahrzeuge
Die SDV-Transformation bietet OEMs die Möglichkeit, die Qualität ihrer Flotte durch weniger Rückrufe, Reklamationen und Nacharbeiten zu verbessern. Ein Blick auf die Rückrufaktionen der jüngeren Vergangenheit zeigt, dass allein in Deutschland zwischen 2018 und 2022 mehr als 8,5 Millionen Fahrzeuge zurückgerufen wurden. Mehr als 40 Prozent dieser Rückrufe waren ganz oder teilweise auf Softwareprobleme zurückzuführen. Dies ist für die OEMs mit erheblichen Kosten verbunden und führt auf nachgelagerter Ebene zu Reputationsschäden sowie zu Umsatz- und Margenverlusten.
Dabei geht es nicht nur um rein funktionale Eigenschaften, sondern auch um Sicherheitsvorschriften, die sich ständig weiterentwickeln und Updates der eingesetzten Software erfordern, insbesondere im Bereich des autonomen Fahrens. Neben Softwareupdates zur Fehlerbehebung bietet eine permanente Verbindung der Fahrzeuge mit den Entwicklungsteams die Möglichkeit, Daten aus der Flotte über die Nutzung von Funktionen zu sammeln. Dies ermöglicht es den OEMs, auf Beschwerden und Qualitätsprobleme in der Nutzererfahrung schneller zu reagieren. Kundenorientierte Funktionen, die in der Regel komplexe End-to-End-Ketten aus vielen Systemkomponenten darstellen, können so im Laufe der Zeit schneller und gezielter verbessert werden. Automobilhersteller sollten sich daher darauf konzentrieren, klare Entwicklungsprozesse zu etablieren, die „Over the air“-Updates entlang des gesamten SDV-Technologiestacks ermöglichen („basics first“), um Updates dynamisch bereitzustellen.
C) Neue Wachstums- und Geschäftspotenziale für Automobilhersteller durch die SDV-Transformation
SDVs bieten OEMs neue Wertschöpfungsmöglichkeiten, insbesondere durch innovative digitale Dienste und eine stärkere Integration der Kunden in ihr digitales Ökosystem. Letztendlich kann die Software-Fokussierung den Automobilherstellern zu einer höheren Bewertung und damit zu mehr Attraktivität für Investoren verhelfen.
OEMs erschließen durch SDV neue Software- und Serviceeinnahmen sowie skalierbare und wiederkehrende Umsätze
Ein Schlüsselfaktor für die SDV-Aktivitäten der OEMs sind die potenziellen künftigen Dienstleistungseinnahmen, die sie mit ihren Fahrzeugen erzielen können. Jüngste EY-Studien zu softwaredefinierten Fahrzeugen prognostizieren einen Umsatz von über 100 Milliarden Euro bis 2030. Derzeit werden jedoch viele inhaltsbezogene Dienste über das Smartphone-Ökosystem mit seinen App-Stores und Zahlungsinfrastrukturen monetarisiert. Darüber hinaus gibt es noch wenig erprobte Geschäftsmodelle für die Monetarisierung von In-Car-Diensten, was Drittanbieter abschreckt. Ein möglicher Weg für OEMs besteht darin, hochwertige Dienste zu identifizieren und diese als Kern ihres Service-Ökosystems zu entwickeln und anzubieten.
Darüber hinaus sollten OEMs Drittanbietern die Entwicklung von Diensten für ihre In-Car-Infotainment-Betriebssysteme erleichtern und generell optimale Voraussetzungen für die Entwicklung von Diensten schaffen (z. B. durch ein umfassendes CI/CD-Setup und die nahtlose Integration bestehender Best Practices im Bereich Developer Experience). Vor allem aber sollten sie starke Monetarisierungsoptionen bieten. Darüber hinaus muss Klarheit über die Natur des fahrzeugzentrierten Ökosystems geschaffen werden. Eine verbreitete Einschätzung auf dem Markt ist, dass ein SDV eher wie ein „zweites Zuhause“ funktioniert, was auch einen wichtigen Unterschied zum mobilen Ökosystem darstellt. Voraussetzung für ein SDV-Erlebnis, bei dem sich der Nutzer wie zu Hause fühlt, ist jedoch die Integration einer ganzen Reihe von technologischen Ökosystemen (Content, Unterhaltung, Spiele, soziale Netzwerke usw.). Um dies zu erreichen, müssen die OEMs skalierbare Wege finden und die Spannungen mit den beteiligten Hauptakteuren lösen (beispielsweise im Bereich Data Ownership).
Durch ein umfassendes digitales Service-Ökosystem im Fahrzeug erreichen OEMs eine stärkere Kundenbindung und einen höheren CLV
Eine wichtige Anforderung an die OEMs besteht darin, sich vom Auto als alleinigem Verkaufsobjekt zu lösen und sich auf wiederkehrende Dienstleistungseinnahmen über den gesamten Lebenszyklus des Fahrzeugs zu konzentrieren. Der Übergang zum SDV ebnet dafür den Weg. Durch ein vielfältiges Ökosystem digitaler Dienste können OEMs die Kundenbindung erhöhen, indem sie das Fahrzeug in den Mittelpunkt der Nutzerinteraktion rücken und ein intensives Kundenerlebnis ermöglichen. Dazu muss das Fahrzeug als „User Interface“ etabliert werden, in dem die Nutzer in großem Umfang interagieren. Derzeit erfolgen die Interaktionen, die relevante Daten generieren, nicht über die Benutzerschnittstelle des Fahrzeugs, sondern hauptsächlich über das Smartphone. Folglich sind diese Daten für die OEMs nicht zugänglich, um ihre Dienstleistungen zu verbessern.
Zudem sind die Nutzer bereits tief in konkurrierende Technologie-Ökosysteme eingebunden, was den Wechsel zu einem fahrzeugzentrierten Ökosystem erschwert. Um das Potenzial auszuschöpfen, stehen die OEMs vor der Herausforderung, die erforderlichen Dienste in nativer Form für die Fahrzeuge verfügbar zu machen und sie nahtlos in die Benutzeroberfläche des Fahrzeugs und das gesamte Nutzererlebnis zu integrieren. Um dies zu erreichen, können die OEMs ihre Benutzeroberflächen für Technologie-Player öffnen, die ihre eigene In-Car-Infotainment-Plattform und das eigene App-Ökosystem einbringen (was sie bereits tun) oder das eigene App-Ökosystem durch spezialisierte Apps von Drittanbietern aufbauen bzw. erweitern.
Das Rennen um die Bildschirmnutzungszeit im Auto und damit um wiederkehrende Serviceeinnahmen wird dadurch entschieden, wer den Nutzer und seine Präferenzen am besten kennt und Letztere in überzeugende In-Car-Technologien (Bildschirm, Audio, Haptik) und Dienste umsetzen kann.
Geringere Skalierungskosten und wiederkehrende Serviceumsätze machen die OEMs attraktiver für Investoren, erhöhen die Bewertung und erleichtern den Zugang zu Kapital
Im Zuge des Übergangs zum SDV werden die OEMs stärker als Softwareunternehmen wahrgenommen, für die auch mit dem Tech-Segment vergleichbare Wachstumsraten erwartet werden. Aus Anlegersicht sind die SDV-Transformation und das damit verbundene digitale Dienstleistungsgeschäft mit geringeren Skalierungskosten eine äußerst interessante Wachstumschance. Dies ist wichtig für die OEMs, da eine höhere Bewertung den Zugang zu Kapital verbessert und damit zur Finanzierung des technologischen Wandels in den Bereichen Elektrofahrzeuge, autonomes Fahren, Chips, SDV usw. beiträgt, wodurch Innovation und Wettbewerbsfähigkeit gefördert werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund rückläufiger Umsätze im Verbrennungsmotorengeschäft. Betrachtet man die aktuellen durchschnittlichen Wachstumsraten (CAGRs) der Marktkapitalisierung der OEMs, so scheint sich die Softwarerevolution bei Tesla (74 % CAGR der Marktkapitalisierung) und BYD (23 % CAGR der Marktkapitalisierung) bereits bemerkbar zu machen, während die Wachstumsraten bei den traditionellen OEMs moderater ausfallen (CAGR der Marktkapitalisierung liegt in der Regel zwischen 3 und 7 %).1
Dementsprechend erkennen Investoren noch keine erhöhten Wachstumschancen für traditionelle OEMs und zögern mit großvolumigen Kapitalinvestitionen. Um als Softwareunternehmen wahrgenommen zu werden, müssen OEMs beide Dimensionen der SDV Value Pyramid beherrschen, d. h. digitale Dienste mit nachhaltigen Wachstumsraten anbieten und gleichzeitig die Kosten und die Komplexität der Softwareentwicklung reduzieren. Dieser Prozess kann in eine eher Tech-orientierte Investor Story eingebettet werden, die sich z. B. auf das Reporting von Umsätzen und Wachstum der digitalen Dienste, die Anzahl der beteiligten Entwickler, die Bildschirmnutzungsdauer der Fahrzeuginsassen, aktivierte Käufe von Drittanbietern und freigeschaltete ADAS-Funktionen konzentriert.