Stromleitungen und Windkraftanlagen nahe des Kraftwerk Niederaussem von RWE im Koelner Umland.

Wie Brüssel den Strommarkt reformiert

Die EU will für mehr Preisstabilität sorgen und erneuerbare Energien stärker fördern.


Überblick

  • Bei dem reformierten Strommarktdesign der EU-Kommission geht es vor allem um den Ausbau erneuerbarer Energien wie auch um einen beschleunigten Gasausstieg.
  • Private und gewerbliche Verbraucher sollen vor zu großen Preisschwankungen insbesondere für fossile Brennstoffe und vor Marktmanipulation geschützt werden. 
  • Die Vorschläge lassen keine tiefgreifende Umwälzung des europäischen Strommarktdesigns erkennen; es handelt sich vielmehr um eine Reform statt einer Revolution der Marktregeln.

Angesichts extremer Spannungen auf den Elektrizitätsmärkten hat die EU-Kommission Vorschläge für ein reformiertes Strommarktdesign vorgestellt. Es geht vor allem um den Ausbau erneuerbarer Energien wie auch um einen beschleunigten Gasausstieg. Private und gewerbliche Verbraucher sollen vor zu großen Preisschwankungen insbesondere für fossile Brennstoffe und vor Marktmanipulation geschützt werden. Hierzu schlägt die Kommission zwei Änderungsverordnungen vor, u. a. zur Novellierung der Elektrizitätsverordnung, der Elektrizitätsrichtlinie, der ACER-Verordnung sowie der REMIT-Verordnung. Mit dem Europäischen Parlament und dem Rat wurde zudem am 30. März 2023 eine Einigung über die EU-Richtlinie für erneuerbare Energien (RED III) erzielt.

PPAs und Differenzverträge

Neben verschiedenen Normpräzisierungen (etwa hinsichtlich bestimmter Grundsätze für den Handel auf dem Day-ahead- und dem Intraday-Markt) und Legaldefinitionen soll die Elektrizitätsverordnung für den grenzüberschreitenden Stromhandel (VO 2019/943) durch eine Reihe neuer Vorschriften geändert bzw. ergänzt werden. Beispielsweise sollen Übertragungsnetzbetreiber (vorab genehmigte) Produkte zur Lastspitzenreduktion („peak shaving products“) anbieten können, um die Stromnachfrage in Spitzenlaststunden zu senken. Hinzu kommen spezifische Investitionsanreize zur Erreichung der Dekarbonisierungsziele. Das betrifft längerfristige Verträge für Strom aus nichtfossiler Erzeugung (sog. PPAs, also Power Purchase Agreements, auf Deutsch Strombezugsverträge). Zur Sicherung der Investitionen sollen staatliche Garantien erleichtert werden. Zweiseitige Differenzverträge (Contracts for Difference) gewinnen weiter an Bedeutung. Einerseits wird Erzeugern so ein Mindesterlös garantiert, andererseits schöpft der Staat „Übergewinne“ ab, wenn ein bestimmter „strike price“ nach oben überschritten wird.

Mehrere Zähler und letzte Instanz

Die Änderungen der Stromrichtlinie (EU 2019/944) sehen vor allem weitere Vorschriften zum Schutz der Verbraucher vor. Die Mitgliedstaaten sollen sicherstellen, dass Kunden gleichzeitig mehrere Strombezugsverträge haben können und dass dafür an einem einzigen Anschlusspunkt mehrere Zähler installiert werden dürfen. Endkunden, die über einen intelligenten Zähler verfügen, sollen Anspruch auf Verträge mit dynamischen Stromtarifen bekommen. Haushalte und KMU sollen ein Recht auf Beteiligung an einer gemeinsamen Energienutzung zum Eigenverbrauch erhalten. In ihrer Rolle als „aktive Kunden“ (die also Energie selbst erzeugen, speichern oder verkaufen, ohne dies gewerblich zu tun) sollen Haushalte und KMU beispielsweise zu viel erzeugte Energie an andere Verbraucher abgeben oder die aus im Miteigentum befindlichen Anlagen erzeugte erneuerbare Energie gemeinsam nutzen können. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, zumindest für Haushaltskunden einen „Versorger letzter Instanz“ zu benennen, also ein Unternehmen, das die Stromversorgung von Kunden übernehmen muss, wenn der bisherige Anbieter seinen Betrieb einstellt. Mit Blick auf die Erfahrungen durch den Ukraine-Krieg sollen auch öffentliche Eingriffe ermöglicht werden, die Verbrauchern in Krisenzeiten einen Zugang zu erschwinglicher Energie sicherstellen.

Aufsichtsagentur und Algorithmen

Brüssel will zudem die Verordnung über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts (VO 1227/2011) sowie die Verordnung zur Gründung einer EU-Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (VO 2019/942) novellieren. Es geht beispielsweise um eine Zulassungspflicht für Plattformen für Insider-Informationen (IIP). Auch werden die Aufsichtsrechte der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) näher ausformuliert. Ferner sollen Regulierungsvorgaben zum algorithmischen Handel geschaffen werden – also zum Handel mit einem Energiegroßhandelsprodukt, bei dem ein Computeralgorithmus die einzelnen Parameter von Handelsaufträgen automatisch bestimmt. Die Zusammenarbeit europäischer Regulierungsbehörden wird intensiviert, vor allem zwischen ACER, ESMA, der EU-Kommission und den nationalen Behörden, um Wettbewerbsverstöße zu bekämpfen.

Einigung über RED III

Unabhängig von diesen Kommissionsvorschlägen haben sich Europäisches Parlament, Rat und Kommission im Trilog-Verfahren auf eine umfassende Änderung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (Renewable Energy Directive, RED III) geeinigt. Der Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtverbrauch der EU soll danach bis 2030 auf 42,5 Prozent ansteigen (aktueller Wert: rund 22 Prozent). Auch soll es sektorspezifische Ziele zur Erreichung von Treibhausneutralität geben. Beispielsweise soll der Anteil erneuerbarer Energien im Gebäudesektor bis 2030 mindestens 49 Prozent ausmachen. Dies dürfte in Deutschland die ohnehin intensive Diskussion um die Reform des Gebäudeenergiegesetzes und ein Öl- und Gasheizungsverbot weiter befeuern.

Co-Autor: Lars S. Otto

Fazit

Eine tiefgreifende Umwälzung des europäischen Strommarktdesigns lässt sich aus den Vorschlägen nicht ablesen. Es geht um Reform statt Revolution der Marktregeln. Im Rahmen des europäischen Gesetzgebungsprozesses werden sicherlich noch Änderungen durch das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten erfolgen. Der weitere Ausbau der Transparenzregeln und die Stärkung von Verbraucherrechten werden nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Der Bürokratieaufwand dürfte zunehmen.

Grundsätzlich positiv ist zu bewerten, dass die Preisfindung im Strommarkt weiterhin auf der Merit-Order zur Einsatzreihenfolge der Kraftwerke beruhen wird. Dennoch dürften die Diskussion um die Preisfindung und auch die Schaffung sog. Kapazitätsmärkte weitergehen. Die Fokussierung auf eine Stärkung langfristiger Verträge ist richtig. Während in den vergangenen Jahren insbesondere die Kartellbehörden auf kurzfristige Vertragslaufzeiten drängten, um so Wechselmöglichkeiten und den Wettbewerb zu fördern, werden nun (wieder) langfristige Verträge populär.

Besonderes gesellschaftliches Potenzial hat die vorgeschlagene Beteiligung an der gemeinsamen Energienutzung. Die unmittelbare Verknüpfung von Eigenverbrauch und Energieerzeugung/-speicherung birgt die Chance, die klimaneutrale Stromversorgung als Frage der eigenen Betroffenheit zu erleben.

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