Grüne Blätter

Warum das Gesundheitssystem unter der Klimakrise leidet

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Auch die Gesundheitsbranche sollte seine eigene CO2-Bilanz verbessern.


Überblick

  • Der Fußabdruck des Gesundheitswesens
  • Erste Ansätze zur Klimaneutralität
  • Alle Akteur:innen in die Pflicht nehmen

Das Gesundheitssystem leidet unter der Klimakrise

Die heißen Sommertage haben noch einmal das verdeutlicht, wovor der Weltklimarat schon lange warnt: Hitze ist das größte mit dem Klimawandel assoziierte Gesundheitsrisiko in Europa! Laut Auswertungen des Robert Koch-Instituts sind allein in Deutschland in den letzten Sommern mehr als 19.000 Menschen aufgrund von Hitze gestorben. An Hitzeaktionsplänen der Städte und Kommunen, klimatisierten Räumen für vulnerable Zielgruppen oder der Berücksichtigung in Bau- und Arbeitsschutzgesetzen fehlt es jedoch noch allerorten. Während das Gesundheitswesens noch mit den Lehren aus der Pandemie ringt, stehen die nächsten Herausforderungen längst vor der Tür.

Laut Auswertungen des Robert Koch-Instituts sind allein in Deutschland in den letzten Sommern mehr als 19.000 Menschen aufgrund von Hitze gestorben.

Die Hitzebelastung als Folge der Erderwärmung gefährdet unser Leben und belastet somit auch das Gesundheitssystem. Neben den extremen Wetterbedingungen in Europa setzen auch der Klimawandel und die Umweltverschmutzung das Gesundheitswesen zusätzlich unter Druck. Schlechte Luftqualität löst eine wachsende Zahl an Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Allergien aus und die Fälle vektorübertragener oder lebensmittelbedingter Krankheiten steigen. Überdies gefährdet sowohl die Sorge um den Klimawandel als auch um dessen Folgen zunehmend die psychische Gesundheit.

Der Fußabdruck des Gesundheitswesens

Doch nicht nur die Zunahme an Patienten:innen und Krankheitsbelastungen kommen auf das Gesundheitswesen zu, auch die eigene Rolle als Verursacher von Emissionen sowie der Kampf gegen Umweltverschmutzung und der Verlust der Biodiversität rücken zunehmend ins Bewusstsein. Wäre das Gesundheitswesen ein Land, so wäre es der weltweit fünftgrößte Verursacher von Kohlenstoffdioxidemissionen. Laut Berechnungen der Nichtregierungsorganisation „Health Care Without Harm“ gehen rund 70 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente auf das Konto von Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Arztpraxen. Auch die dahinter liegenden Produktionen und Lieferketten tragen einen großen Anteil dazu bei. In Summe sind es rund fünf Prozent der nationalen Treibhausgasemissionen der westlichen Industrieländer.

Wäre das Gesundheitswesen ein Land, so wäre es der weltweit fünftgrößte Verursacher von Kohlenstoffdioxidemissionen.

Da der Gesundheitssektor zu den systemrelevanten Industrien zählt, wurde von ihm bisher nur in geringem Maße gefordert, Vorreiter bei der Einführung umweltfreundlicher Strategien zu sein. Druck der Konsument:innen durch die Wahl besonders umweltfreundlicher Praxen oder Medizinprodukte entfaltet sich allenfalls zaghaft. Etablierte Siegel oder Zertifikate für grüne Praxen, Apotheken oder Produkte, an denen sich Verbraucher:innen orientieren könnten, fehlen. Umso stärker ist vielerorts der Druck der Beschäftigten, die angesichts täglicher Müllberge und hohem ethischen Anspruch an ihre eigene Arbeit rebellieren oder selbst aktiv werden.

Auch hier hat Corona wie ein Brennglas gewirkt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden von März 2020 bis November 2021 weltweit mehr als 140 Millionen Testkits verschifft, die potenziell 2.600 Tonnen nicht-infektiösen Abfall (hauptsächlich Plastik) und 731.000 Liter chemische Abfälle (entspricht einem Drittel der Füllmenge eines Olympiaschwimmbeckens) produzieren – eine Bedrohung für Mensch und Umwelt. Und das sind nur die Zahlen für die von der UN beschafften Tests – ein Bruchteil der erheblich größeren globalen Bestellmenge. Allein in Europa wurden im selben Zeitraum 1,7 Milliarden Tests durchgeführt. Die WHO verlangt einen „deutlichen Wandel auf allen Ebenen, von der globalen Ebene bis hin zum Krankenhaus“.

Erste Ansätze zur Klimaneutralität

Das nationale britische Gesundheitssystem (NHS) hat sich zum Ziel gesetzt, seine eigenen Prozesse und die seiner Abertausenden globalen Zulieferer zu dekarbonisieren und bis 2040 klimaneutral zu sein. Sämtliche Hebel wurden dafür durchleuchtet, beziffert und priorisiert – erste Maßnahmen sind in der Umsetzung. Im fragmentierten deutschen System der verteilten Zuständigkeiten ist ein ganzheitlicher Blick auf Pharma- und Medizintechnik, Krankenhäuser, Arztpraxen und Apotheken, Krankenversicherungen und nicht zuletzt auf Patient:innen erheblich komplexer. Umso wichtiger, dass alle Akteur:innen zumindest ihr jeweiliges Handlungsfeld verstehen.

Ähnlich wie bei der Digitalisierung vor einigen Jahren gilt es, ein gesellschaftliches Thema mit ein wenig Verzug auch für das Gesundheitswesen zu etablieren. Dazu braucht es verschiedene Werkzeuge und spezielle Kompetenzen, aber auch Verhaltensänderungen. Wo bis vor Kurzem Posten für Chief Digital Officer neu geschaffen wurden, setzen erste Vorreiter nun Chief Sustainability Officer direkt unter dem Vorstand ein, um die Agenda voranzutreiben und in allen Bereichen der Unternehmen zu verankern. Anders als beim digitalen Wandel, der zwar anfänglich mit ähnlichen Berührungsängsten, aber auch mit großen Visionen neuer Geschäfts- und Versorgungsmodelle verbunden war, fehlt im Diskurs hin zu mehr Nachhaltigkeit häufig die Aufbruchsstimmung. Dabei kann auch sie ein starker Hebel sein, um eingefahrene Prozesse infrage zu stellen, neue Versorgungsmodelle zu fördern und Innovationen im Markt zu etablieren.

Erste Vorreiter setzen nun Chief Sustainability Officer direkt unter dem Vorstand ein, um die Agenda voranzutreiben und in allen Bereichen der Unternehmen zu verankern.

Alle Akteur:innen in die Pflicht nehmen

Der erste Schritt ist dabei für die meisten Akteur:innen gleich: Alle müssen ihren jeweiligen Fußabdruck und die Stellschrauben kennen. Das heißt, am Anfang steht eine systematische Ermittlung und Quantifizierung des gesamten Spektrums an Emissionen: von der Energiebeschaffung und den Möglichkeiten der Gebäude- und Betriebseffizienz bis zum Einkauf des medizinischen Bedarfs und der eigenen Behandlungs- und Verschreibungspraxis. Eine gründliche wirtschaftliche Analyse kann zeigen, welche finanziellen Auswirkungen weitere umweltfreundliche Verfahren sowohl kurz- als auch langfristig haben, und das Augenmerk auf wesentliche Bedingungen für systematische und nachhaltige Veränderungen richten, wie beispielsweise die Einbeziehung von und Zusammenarbeit aller Beteiligten.

Da über 70 Prozent der Emissionen des Gesundheitssektors aus den Lieferketten stammen, gelten Hersteller von Arzneimitteln, Medizintechnik oder medizinischer Ausrüstung als die größten Verursacher der negativen Klimabilanz des Gesundheitswesens. Neben ihrerseits nachhaltigen Beschaffungsmaßnahmen und einem Wechsel zu erneuerbaren Energieträgern können diese Unternehmen ihre Aktivitäten ökologischer gestalten, indem sie klimabelastende Verfahren mit hohem Energie- und Wasserverbrauch für Heizung, Wärmeschutz und Kühlung optimieren und die Ineffizienzen bei Logistik und Transport verringern. Die Suche nach innovativen Kreislaufansätzen kann dazu beitragen, den Verpackungs- und Recyclingabfall in den Griff zu bekommen und die Verunreinigung durch Medikamentenentsorgung und den Wasserverbrauch zu mindern.

Da über 70 Prozent der Emissionen des Gesundheitssektors aus den Lieferketten stammen, gelten Hersteller von Arzneimitteln, Medizintechnik oder medizinischer Ausrüstung als die größten Verursacher der negativen Klimabilanz des Gesundheitswesens.

Bei Krankenhäusern steht vor allem der enorme Energieverbrauch der Gebäude und das fehlende Recycling des OP-Mülls sowie die Optimierung der Lieferketten im Vordergrund. Aber auch Quick Wins wie die Umstellung von Narkosegasen sind längst noch nicht überall ausgeschöpft. Stattdessen wird in vielen Klinken weiterhin standardmäßig das Inhalationsanästhetikum Desfluran eingesetzt, das etwa 20-mal klimaschädlicher ist als die Alternative Sevofluran, das selbst aber immer noch ein potentes Treibhausgas ist.

Die größten Ineffizienzen liegen indes in den Bereichen Heizen und Kühlen – das kann zu großen Maßnahmen wie eigenen Blockheizkraftwerken oder der Nutzung von Geothermie führen, aber auch zu einfachen Änderungen wie beispielsweise dem gezielten Abschalten nicht genutzter OP-Säle. Hinzu kommen die Neuausrichtung der Medizinbedarfe (beispielsweise die Nutzung günstiger und steriler Einmal-Kunststoffartikel), die konsequente Abfalltrennung und das In-House-Recycling, die Anpassung des Caterings (zum Beispiel fleischarm, kleinere Portionsgrößen, weniger Verpackung oder Erhöhung des Bio-Anteils) oder die Nutzung regenerativer Energien beziehungsweise ein Energiespartraining für Mitarbeitende sowie die Umstellung der Beleuchtung. Deutlich größer sind Investitionen in nachhaltige Gebäudeinfrastrukturen. Spätestens hier kommen die meisten Häuser an die Grenzen ihrer eigenen Gestaltungsfreiheit. Ohne klare Förderprogramme und Finanzierungsanreize – vergleichbar mit dem Fonds für die Digitalisierung des Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) – dürften die größten Hebel im Krankenhaus schwer zu erschließen sein.

Krankenkassen haben zunächst einmal in ihren eigenen Prozessen und als Arbeitgeber vergleichsweise kleine Hebel. Dazu gehören wie für andere Verwaltungen auch nachhaltige Bürogebäude, die Umstellung auf erneuerbare Energien, umweltfreundliche Kantinen, Jobräder und Nahverkehrstickets für die Beschäftigten und die Digitalisierung von Prozessen, für die bisher viel Papier gebraucht wurde. All dies sind für Krankenkassen auch Potenziale, sich als Arbeitgeber und im Wettbewerb um umweltbewusste Kund:innen zu differenzieren. Dazu gehören beispielsweise auch eher plakative Maßnahmen wie die Pflanzung von Bäumen für neue Mitglieder oder die Teilnahme an beziehungsweise das Angebot von Umwelt-Challenges. Darüber hinaus können Krankenkassen ihre Versicherten aber auch für das Thema sensibilisieren und zur Prävention und gesunden Lebensführung animieren – und damit im besten Fall ein klein wenig zur mittelfristigen Vermeidung von Krankenhausaufenthalten beitragen.

Die weitaus größere Wirkung erzielen Krankenkassen, wenn sie ihre Rolle als Gestalter des Gesundheitssystems nutzen und nachhaltige Lieferketten in Rabattverträge integrieren oder über Hausarztverträge Anreize für grüne Praxen setzen und damit aktiv die Wertschöpfungskette beeinflussen.

Die weitaus größere Wirkung erzielen Krankenkassen, wenn sie ihre Rolle als Gestalter des Gesundheitssystems nutzen und nachhaltige Lieferketten in Rabattverträge integrieren oder über Hausarztverträge Anreize für grüne Praxen setzen.

Hier kann der Gesetzgeber unterstützen. Laut Sozialgesetzbuch müssen die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein (§ 12 SGB V). Nachhaltigkeit ist bislang gesetzlich nicht verankert. Eine klare Rechtsgrundlage würde den Körperschaften des öffentlichen Rechts jedoch die Integration von Nachhaltigkeitskriterien in Beschaffungsentscheidungen oder Selektivverträge erleichtern beziehungsweise sie aktiv dazu anhalten, Impulse an das Gesundheitssystem weiterzugeben. Wie schwierig das bislang in der Praxis ist, musste auch die AOK feststellen. Hier war es möglich, Umweltkriterien in der Ausschreibung für Antibiotikawirkstoffe zu verankern, sodass pharmazeutische Hersteller Bonuspunkte, beispielsweise durch das Einhalten von Schwellenwerten für die Wirkstoffkonzentration im Produktionsabwasser, bekommen konnten. Nachhaltige Lieferketten als Vertriebskriterien festzulegen, wurde jedoch als Verstoß gegen die Gleichbehandlung im Rahmen des Vergaberechts eingestuft: Europäisch produzierte Arzneimittel mit kurzen Transportwegen dürfen globalen Produkten nicht vorgezogen werden. Insofern bedürfte es hier über die Änderung des SGB V hinaus auch einiger Anpassungen der EU-Gesetzgebung.

Jenseits der großen Spieler ließen sich auch in der Logistik (zum Beispiel emissionsarme Flotten und weniger Lieferungen pro Tag), Apotheken (beispielsweise Verzicht auf Give-aways, Anreize zur Rückgabe von Medikamenten, Steigerung der Bestandstransparenz) oder Arztpraxen (zum Beispiel Verwendung von Trockenpulver-Inhalatoren oder Angebote von Videosprechstunden zur Vermeidung von Transportwegen) jeweils sehr spezifische Maßnahmen umsetzen, mit denen Emissionen reduziert werden können. Dazu kann die wissenschaftliche Begleitung mit Evidenz über die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels und Messungen zu Emissionen weiter Aufmerksamkeit für das Thema schaffen. Erste Start-ups positionieren sich mit nachhaltigen Technologien und der Entwicklung nachhaltiger Versorgungslösungen. Die Finanzierung von Gesundheitsprojekten durch die Bindung der Finanzmittel an Umwelt- und Emissionsziele scheint gerade für private Krankenhäuser zunehmend attraktiv zu werden. Die Förderung ökologischer Innovation und Technologien, strategischer Partnerschaften und nachhaltiger Finanzierungsförderungen und -mechanismen kann all dies zusätzlich befördern.

Über alle Einzelmaßnahmen und regulatorischen Impulse und Anreize hinaus wäre der vermutlich größte Hebel die Festlegung spezifischer Emissionsziele auch für das Gesundheitssystem.

Das gemeinsame Ziel „Net Zero“ als Motor partnerschaftlicher Bemühungen

Über alle Einzelmaßnahmen und regulatorischen Impulse und Anreize hinaus wäre der vermutlich größte Hebel die Festlegung spezifischer Emissionsziele auch für das Gesundheitssystem. Bis zu einem Netto-null-Gesundheitswesen ist es derzeit noch ein weiter Weg. Ein gesamthafter Rahmen mit konkreten Zeitrahmen, Meilensteinen und Konsequenzen bei Nichteinhaltung würde den Druck erhöhen. Zugleich könnte damit die Kooperation zwischen den Akteur:innen gestärkt werden, wenn positive Dominoeffekte in der gesamten Wertschöpfungskette ausgelöst werden. Im besten Fall werden dabei Synergien der Digitalisierung genutzt, die ebenfalls nur im Ökosystem funktioniert und über die smarten Steuerungen des Energieverbrauchs, reduzierten Reisebedarf durch Online-Konsultationen und -Monitoring und verringerten Papierverbrauch selbst einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten kann – zumindest, sofern die Umsetzung nach Best Practice im Sinne von Green-IT erfolgt.

Zugleich kann es auch keine Entschuldigung sein, auf die Politik zu warten. Jeder Akteur trägt eine spezielle Verantwortung, den nachhaltigen Wandel zu unterstützen. Drei Schritte markieren dabei den typischen Weg:

  • Quantifizieren und evaluieren: „Emissions-Hotspots“ quantifizieren und eine wirtschaftliche Bewertung der wichtigsten Hebel durchführen.
  • Priorisieren und qualifizieren: Eine Roadmap der ersten Maßnahmen entwerfen und während der Umsetzung Know-how, Zuversicht und Ambition weiterentwickeln.
  • Partnerschaften eingehen und professionalisieren: Das Potenzial der kollektiven Umstellung auf nachhaltige Geschäftsprozesse durch ökologische Systemveränderungen und übergreifende Maßnahmen nutzen.

Der Klimawandel war im Gesundheitswesen lange kein dringliches Thema. Doch mittlerweile lautet die Frage nicht mehr, ob, sondern wie schnell und in welchem Umfang sich der Gesundheitssektor wandeln kann. Wenn es um die deutliche Reduktion von Energieverbrauch, Abfallmengen durch weniger Wegwerfartikel und Einweginstrumente oder Emissionen geht, sind Nachhaltigkeits-Know-how und sektorspezifische Kompetenz gefragt. Nur dann kann es gelingen, Krankenhäuser, Praxisinhaber, Apotheken und die dahinter liegende Produktion und Logistik zu transformieren. Am erfolgreichsten sind die verschiedenen Maßnahmen, wenn alle Akteur:innen ihre Kräfte bündeln und gemeinsam handeln.

Fazit

Die Gesundheitsbranche steht vor großen Herausforderungen: Klimakrise oder die eigene Rolle als Emissionen-Verursacher. Was nun zu tun ist, lesen Sie hier.

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