Da der Gesundheitssektor zu den systemrelevanten Industrien zählt, wurde von ihm bisher nur in geringem Maße gefordert, Vorreiter bei der Einführung umweltfreundlicher Strategien zu sein. Druck der Konsument:innen durch die Wahl besonders umweltfreundlicher Praxen oder Medizinprodukte entfaltet sich allenfalls zaghaft. Etablierte Siegel oder Zertifikate für grüne Praxen, Apotheken oder Produkte, an denen sich Verbraucher:innen orientieren könnten, fehlen. Umso stärker ist vielerorts der Druck der Beschäftigten, die angesichts täglicher Müllberge und hohem ethischen Anspruch an ihre eigene Arbeit rebellieren oder selbst aktiv werden.
Auch hier hat Corona wie ein Brennglas gewirkt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden von März 2020 bis November 2021 weltweit mehr als 140 Millionen Testkits verschifft, die potenziell 2.600 Tonnen nicht-infektiösen Abfall (hauptsächlich Plastik) und 731.000 Liter chemische Abfälle (entspricht einem Drittel der Füllmenge eines Olympiaschwimmbeckens) produzieren – eine Bedrohung für Mensch und Umwelt. Und das sind nur die Zahlen für die von der UN beschafften Tests – ein Bruchteil der erheblich größeren globalen Bestellmenge. Allein in Europa wurden im selben Zeitraum 1,7 Milliarden Tests durchgeführt. Die WHO verlangt einen „deutlichen Wandel auf allen Ebenen, von der globalen Ebene bis hin zum Krankenhaus“.
Erste Ansätze zur Klimaneutralität
Das nationale britische Gesundheitssystem (NHS) hat sich zum Ziel gesetzt, seine eigenen Prozesse und die seiner Abertausenden globalen Zulieferer zu dekarbonisieren und bis 2040 klimaneutral zu sein. Sämtliche Hebel wurden dafür durchleuchtet, beziffert und priorisiert – erste Maßnahmen sind in der Umsetzung. Im fragmentierten deutschen System der verteilten Zuständigkeiten ist ein ganzheitlicher Blick auf Pharma- und Medizintechnik, Krankenhäuser, Arztpraxen und Apotheken, Krankenversicherungen und nicht zuletzt auf Patient:innen erheblich komplexer. Umso wichtiger, dass alle Akteur:innen zumindest ihr jeweiliges Handlungsfeld verstehen.
Ähnlich wie bei der Digitalisierung vor einigen Jahren gilt es, ein gesellschaftliches Thema mit ein wenig Verzug auch für das Gesundheitswesen zu etablieren. Dazu braucht es verschiedene Werkzeuge und spezielle Kompetenzen, aber auch Verhaltensänderungen. Wo bis vor Kurzem Posten für Chief Digital Officer neu geschaffen wurden, setzen erste Vorreiter nun Chief Sustainability Officer direkt unter dem Vorstand ein, um die Agenda voranzutreiben und in allen Bereichen der Unternehmen zu verankern. Anders als beim digitalen Wandel, der zwar anfänglich mit ähnlichen Berührungsängsten, aber auch mit großen Visionen neuer Geschäfts- und Versorgungsmodelle verbunden war, fehlt im Diskurs hin zu mehr Nachhaltigkeit häufig die Aufbruchsstimmung. Dabei kann auch sie ein starker Hebel sein, um eingefahrene Prozesse infrage zu stellen, neue Versorgungsmodelle zu fördern und Innovationen im Markt zu etablieren.