Luftaufnahme der New Jersey Shipyard mit zahlreichen Kränen, Portalen und Schiffscontainern, eingefangen in der

Mit dem digitalen Zwilling in die Logistik von morgen

Die Logistikbranche steht vor großen Herausforderungen und der digitale Zwilling kann eine Schlüsseltechnologie zur Lösung sein.


Überblick

  • Die Logistikbranche steht unter Druck – steigende Kosten erfordern eine erhöhte Effizienz.
  • Der digitale Zwilling ermöglicht erstmals eine voll digitalisierte Steuerung der Lieferkette.
  • Voraussetzung für die Implementierung sind eine gute Datengrundlage und die Auswahl der richtigen Werkzeuge.

Die Auswirkungen der nun bereits mehrere Jahre anhaltenden COVID-19-Pandemie und in jüngster Zeit auch des Krieges in der Ukraine sind für viele Unternehmen und ihre globalisierten Wertschöpfungsketten eine große Herausforderung. Die Zahl der Nebenbedingungen, unter denen logistische Systeme zuverlässig operieren müssen, steigt – und damit auch die Notwendigkeit, Transparenz, Effizienz und Effektivität entlang der gesamten Lieferkette sicherzustellen. Für die Logistik wird neben einer deutlich gesteigerten Kosteneffizienz und Effektivität der erbrachten Leistungen insbesondere auch Resilienz gegenüber exogenen Schocks und einer Globalisierung unter veränderten Rahmenbedingungen entscheidend. So können lokale Störungen in Lieferketten eine größere Systemstörung bewirken und ganze Lieferketten außer Betrieb setzen. Als jüngste Beispiele seien hier die Lieferverzögerungen aufgrund einer mehrtägigen Blockade des Suezkanals durch ein einzelnes auf Grund gelaufenes Schiff oder die ausbleibende Belieferung mit in der Ukraine gefertigten Kabelbäumen für die deutsche Automobilindustrie infolge des russischen Angriffskrieges genannt. Angesichts der Komplexität globaler Lieferketten ist es häufig schwierig, sich einen vollständigen Überblick über die gesamte Lieferkette zu verschaffen und ihn zu behalten – wodurch manche Probleme erst spät oder gar nicht erkannt werden. Mangelnde Transparenz trägt zu gestörten Lieferketten, hohen Kosten und mangelnder Lieferfähigkeit bei.

Neue Möglichkeiten für voll digitalisierte Lieferketten

Abhilfe kann hier ein digitaler Zwilling schaffen. Der digitale Zwilling – oder im Englischen auch digital twin – ist das virtuelle Abbild eines realen Objekts, eines Prozesses oder auch eines Prozesssystems, das auf der Basis von Echtzeitdaten tiefer gehende Analysen und Prognosen durchführt. Im Logistik-Kontext ist der digitale Zwilling die virtuelle Nachbildung einer realen Lieferkette und ermöglicht eine alle Wertschöpfungsstufen umfassende datengetriebene Optimierung. Das Konzept geht dabei jedoch über die lediglich statische digitale Nachbildung eines Logistiksystems hinaus. Stattdessen werden reale Daten genutzt, um Veränderungen in Echtzeit abzubilden, sodass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Realität und Modellierung hergestellt wird. Mithilfe von Prognosemodellen können zudem die Auswirkungen zukünftiger Entscheidungen auf das betrachtete System simuliert werden, sodass die Entscheidungsfindung bei operativen, taktischen oder strategischen Fragestellungen effektiv unterstützt wird.

Mit dieser Innovation wird die notwendige technische Basis für den Aufbau agiler, transparenter, kosteneffizienter und ganzheitlich optimierter Wertschöpfungs- und Lieferketten geschaffen. Die umfassende Digitalisierung der Logistik von morgen ist kein Selbstzweck, sondern wird für die Unternehmen angesichts steigender Herausforderungen im Hinblick auf Nachhaltigkeit, steigende Transportkosten und handelspolitische Unwägbarkeiten unabdingbar, um in der Welt von morgen wettbewerbs- und lieferfähig zu bleiben. Transparenz auf der Basis einer Vielzahl von Daten wird ein entscheidender Faktor, um ganzheitliche Optimierungen entlang der Lieferketten zu ermöglichen und zusätzliche Effizienzpotenziale zu heben.

 

Obwohl die Verwendung digitaler Zwillinge im Bereich der Logistik noch am Anfang steht, gibt es bereits wegweisende Projekte, die das Potenzial dieser Technologie aufzeigen. So setzt beispielsweise die Betreibergesellschaft des Rotterdamer Hafens das Konzept des digitalen Zwillings bereits erfolgreich um: Vor einigen Jahren begann die Betreiberorganisation, mit dem „Container 42“ einen Testcontainer auf die Reise zu schicken, der mit zahlreichen Sensoren versehen war. Dieser sammelte auf seinen weltweiten Reisen zu Partnerstandorten Daten, die als Grundlage für den Aufbau des hafeneigenen digitalen Zwillings genutzt wurden. In den Folgejahren begann der Aufbau eines dichten Netzes von Sensoren im gesamten Hafengebiet, die relevante Daten wie zum Beispiel Wassertiefe, Wetterdaten und Auslastung von Anlegestellen messen. Die großen Datenmengen werden durch eine künstliche Intelligenz ausgewertet und anhand eines digitalen Zwillings des Hafengeländes sinnvoll visuell strukturiert. Somit lassen sich beispielsweise im Hinblick auf den gezeitenabhängigen Wasserstand optimale An- und Ablegezeiten für die Schiffe ableiten. Durch eine effizientere Gestaltung der landseitigen Entladungs- und Beladungsprozesse werden Liegezeiten verkürzt, Staus vermieden und die begrenzten Kapazitäten bestmöglich genutzt. In der von starker Wettbewerbsintensität und hohem Kostendruck geprägten maritimen Logistikbranche bringt diese Form der fortschrittlichen Planung und Steuerung einen bedeutenden Vorteil gegenüber Wettbewerbern.

 

Auch eine weitere Eigenschaft des digitalen Zwillings machte sich der bedeutendste Seehafen Europas zunutze: Durch die Möglichkeit der realitätsnahen Simulation künftiger Prozesse ließen sich die entsprechenden Umbauten und Erweiterungen des Hafens planen und alternative Betriebskonzepte simulieren, ohne laufende Prozesse unterbrechen zu müssen. Langfristig sieht die Hafengesellschaft den digitalen Zwilling im Zusammenspiel mit weiteren Anwendungen der Digitalisierung wie künstlicher Intelligenz und der Fähigkeit zur Verarbeitung und Auswertung sehr großer Datenmengen (Big Data) als entscheidenden Baustein für eine vollständig automatisierte Abfertigung autonom gesteuerter Schiffe.

 

Der digitale Zwilling: mehr als Control Tower und ERP-System

Die Entwicklung in Richtung sich selbst steuernder und optimierender Logistiksysteme ist das Resultat einer konsequenten Digitalisierung der Logistik, und der digitale Zwilling ist ein entscheidender Bestandteil vieler möglicher Teilanwendungen in diesem Kontext. Digitale Zwillinge ermöglichen erstmals eine kontinuierliche datengetriebene Optimierung sowohl einzelner Bestandteile von Lieferketten – zum Beispiel einzelner Lagerhäuser – als auch komplexer globaler Logistiknetzwerke und sind die Grundlage für voll digitalisierte Lieferketten. Bei zahlreichen Herausforderungen, die Logistikunternehmen meistern müssen, kann ein digitaler Zwilling wertvolle Unterstützung bieten. Diese reicht neben der Simulation und Evaluierung alternativer Betriebskonzepte und Prozesse über die komplexe Routenoptimierung in Echtzeit und die lückenlose Nachverfolgung von Transporten bis hin zu erweiterten Kennzahlensystemen mit Verknüpfungen in visuellen dynamischen Modellen der Lieferkette. Damit geht der Anwendungsnutzen eines digitalen Zwillings über klassische ERP-System-basierte Control-Tower-Lösungen hinaus. Während Letztere primär kennzahlenbasierte Informationen bereitstellen, kann ein mit entsprechenden Sensordaten gespeister digitaler Zwilling zusätzlich auch bei der Analyse tiefer gehender Ursachen und Wirkzusammenhänge von Problemen helfen: Durch die Nutzung weitaus größerer Datenmengen und die Verknüpfung mit visuellen Modellen werden Problembereiche nicht nur identifiziert, sondern auch die Problemlösung effektiv unterstützt.

 

Digitale Technologien als Antwort auf ökologische Herausforderungen der Logistik

Mittelfristig kommt noch eine weitere Herausforderung für Transporte aller Art hinzu: Energie wird auf dem Weg zur angestrebten Klimaneutralität teurer. Davon sind vor allem fossile Treibstoffe betroffen, die in der benötigten Menge vorerst nur bedingt substituierbar sind. Doch auch strombasierte Transporte aus erneuerbaren Energiequellen werden begehrt und teuer sein, da die Nachfrage das Angebot um ein Vielfaches übersteigen wird. Nachhaltigkeit wird nicht nur zum ökologischen, sondern auch zu einem ökonomischen Imperativ: Effizient ist künftig, was Emissionen vermeidet und einem gestiegenen Kostenniveau im Transportbereich durch effektivere Planung und Steuerung begegnet. Die verbleibenden notwendigen Transportleistungen müssen mittelfristig zu höheren Kosten erbracht werden, was wiederum deren effizienteren Einsatz bedingt. Bezogen auf die Logistik bedeutet dies, dass der ökologisch wie auch ökonomisch nachhaltigste Transport jener ist, der gar nicht erst stattfinden muss. Isolierte Optimierungsansätze in Teilen von Lieferketten auf der Basis einer lückenhaften Datengrundlage reichen künftig nicht mehr aus, um benötigte Effizienzen zu heben. Notwendig wird eine ganzheitliche, datengetriebene Optimierung komplexer Systeme, die nur durch innovative digitale Technologien zur Erhebung, Auswertung und Darstellung großer Datenmengen möglich ist. Sowohl die dargelegte Notwendigkeit höherer Effizienz als auch die Wichtigkeit gesteigerter Agilität verlangen nach einer digitalen, transparenten und voll integrierten Optimierung und Steuerung entlang der gesamten Lieferkette. Der Einsatz neuer digitaler Technologien, u. a. digitaler Zwillinge, kann einen entscheidenden Beitrag zur Lösung dieser vielschichtigen Herausforderungen leisten und zusätzliche Effizienzpotenziale freilegen.

Die richtigen Daten als Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung

Damit die Umsetzung voll digitalisierter Lieferketten und der Aufbau digitaler Zwillinge in der Praxis reibungslos funktioniert, darf es an einer Sache nicht fehlen: den richtigen Daten. Je nach Einsatzzweck und Umfang eines digitalen Zwillings variiert die Art der benötigten Daten. Für die verschiedenen Akteure in einer Lieferkette sind in erster Linie Auskünfte in Echtzeit über die Position, den Zustand der beförderten Waren und die Lieferzeit relevant. Steht die Datengrundlage, sind Sensoren das probate Mittel für den fortwährenden Datengewinn. Während es einen überschaubaren initialen Aufwand benötigt, diese Sensoren zu installieren, müssen Unternehmen danach kontinuierlich sicherstellen, dass die entstehende Datenflut sinnvoll aggregiert, nutzbringend aufbereitet und analysiert wird. Dafür müssen passende Datenstrukturen geschaffen und der Datenaustausch zwischen verschiedenen Stakeholdern in der Lieferkette sichergestellt werden und außerdem die verknüpften Analyseprogramme kompatibel sein. Es gilt, neue Organisationsstrukturen zu schaffen und leistungsfähige IT-Netzwerke aufzubauen. Unternehmen benötigen spezielle Kenntnisse in relevanten digitalen Technologien wie zum Beispiel dem Internet der Dinge (IoT), Cloud Computing, Data Mining sowie erweiterter und künstlicher Intelligenz, um die Daten entsprechend auswerten zu können. Um einen langfristigen Nutzen aus dem digitalen Zwilling zu ziehen, ist es von besonderer Bedeutung, von Beginn an auf Datenintegrität und Datenschutz zu setzen.

Pilotprojekte als sinnvoller Einstieg in die digitale Logistik

Der Einstieg in eine digitalisierte Logistik sollte im Kleinen beginnen: Zunächst ist es sinnvoll, einen relevanten, abgegrenzten Teil der Lieferkette auszuwählen und ein Pilotprojekt aufzusetzen. Ein Lagerstandort wäre ein naheliegendes Beispiel. Das Unternehmen kann sich hierbei mit der Handhabung eines digitalen Zwillings vertraut machen und Anwendungserfahrung sammeln. In erster Linie geht es darum, eine solide Datengrundlage zu schaffen und grundlegende Prozesse aufzubauen und zu stabilisieren, die später die Basis für ambitioniertere Anwendungen des digitalen Zwillings schaffen. Passend zum konkreten Anwendungsfall wählt das Unternehmen die entsprechende Software aus, die die technischen Voraussetzungen für die Verarbeitung der Daten und die entsprechenden Visualisierungs- und Analysefunktionen bietet. Steht die Grundlage, kann das Unternehmen den Reifegrad schrittweise erhöhen: In klar abgegrenzten Anwendungen rollt man nun den digitalen Zwilling auf neue Anwendungsbereiche aus. Grundsätzlich ist es hierbei sinnvoll, zunächst mit Bereichen zu beginnen, die keine umfangreiche Kooperation mit anderen Partnern benötigen, da die Harmonisierung und das Teilen von Daten eine zusätzliche Herausforderung darstellen. Abschließend steht die Skalierung an: Hat das Pilotprojekt die gewünschten Erfolge erzielt, kann das Unternehmen den digitalen Zwilling für ambitioniertere Projekte verwenden. Dabei ist es ratsam, einen erfahrenen Partner an seiner Seite zu haben, der das notwendige Know-how sowohl zur Auswahl der passenden technischen Infrastruktur als auch für dessen Implementierung besitzt.

In der Zukunft ist von der Anwendung digitaler Zwillinge in der Logistik viel zu erwarten. Es ist offensichtlich, dass die Implementierung eines digitalen Zwillings mit vielfältigen Herausforderungen verbunden ist und wir erst am Anfang einer Entwicklung hin zu voll digitalisierten Lieferketten stehen. Doch Unternehmen profitieren in hohem Maße von den neuen Möglichkeiten, die durch digitale Zwillinge eröffnet werden: Echtzeit-Transparenz komplexer Lieferketten, überlegene Analysekapazitäten auf der Basis großer Datenmengen sowie Lösungsunterstützung bei strategischen, taktischen und operativen Fragen der Logistik weiten den Blick für unternehmensübergreifende Optimierungen. Lieferketten werden dadurch transparenter, agiler und gleichzeitig resilienter gegenüber exogenen Schocks, da Ineffizienzen beseitigt und Engpässe frühzeitig erkannt werden können. Die Steuerung von Lieferketten wandelt sich von einem reaktiven hin zu einem proaktiven Ansatz, ermöglicht durch Zukunftstechnologien wie digitale Zwillinge, Big Data und künstliche Intelligenz. Diese Entwicklung eröffnet Unternehmen die Möglichkeit, den eingangs beschriebenen Herausforderungen für ihre Lieferketten effektiv zu begegnen.

Fazit

Die Logistikbranche steht unter dem Druck hoher Kosten, was sie zu erhöhter Effizienz zwingt. Abhilfe schafft hier das Konzept des digitalen Zwillings, das eine vollständig digitalisierte Lieferkette ermöglicht – damit Unternehmen ihre Lieferkette in Echtzeit steuern und ihre Entscheidungsfindung unterstützen können. Voraussetzung für eine erfolgreiche Implementierung ist eine gute Datengrundlage.

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