Wissenschaftler, der die digitalen Tablettendaten des chemischen Elements Wasserstoff beraet

Chemie wird klein und agil: So schafft Digitalisierung neue Chancen

Bisher setzt die Chemiebranche auf Skaleneffekte. Durch Digitalisierung entstehen neue Formen der Zusammenarbeit und Geschäftsfelder.


Überblick

  • Die Chemieindustrie ist die Branche mit dem drittgrößten CO2-Ausstoß. Klimadebatte, Urbanisierung und Digitalisierung sorgen für Innovationsdruck.
  • Es ist nicht mehr nötig, als Konzern rein auf Skaleneffekte zu zielen – smarte Innovation bringt neue Chancen.
  • Basisanbieter, Plattformanbieter und Partner in Ökosystemen werden künftig ihren Platz in der Branche finden.

Nach Stahl und Zement ist die chemische Industrie die Branche mit dem drittgrößten CO2-Ausstoß – und das ist nicht die einzige Herausforderung für ihre Unternehmen. Neben immer strengeren Klimaanforderungen erfordert zum Beispiel auch das weltweit rasante Wachstum von Städten neue Produktlösungen.

Auch die immer höhere Innovationsgeschwindigkeit durch Digitalisierung stellt besonders die etablierten Konzerne vor komplexe Aufgaben. Sie spüren, wie in der chemischen Industrie ein Wandel einsetzt: Es entscheiden nicht mehr allein Größe und Skaleneffekte über den Erfolg; stattdessen fällt neuen Marktteilnehmern der Eintritt leichter, denn sie können mit agilen Lösungen völlig neue Geschäftsmodelle erschließen.

Viele Zeichen deuten auf den unaufhaltsamen Wandel in der Chemiebranche hin

Es deutet sich seit Jahren an, dass die großen Chemiekonzerne vor einem enormen Wandel stehen. Das hat viele Gründe: Produktpaletten wurden immer austauschbarer und commoditisierter. Die Öl-und-Gas-Industrie erschloss sich Geschäftsfelder, die der Petrochemie nachgelagert sind. Auch in Nischenmärkten tummeln sich inzwischen viele Anbieter und drücken damit auf die Margen. Zudem sorgen hohe gesetzliche Anforderungen und das Erfordernis eines hohen Reifegrads von Produkten zur Markteinführung für immer weiter steigende Innovationskosten.

Die Branche wird sich somit drastisch anpassen und vielen verschiedenen Herausforderungen begegnen müssen. Allein im Bereich Digitalisierung gilt es, massive Veränderungen zu bewältigen, weil beinahe jeder Teil einer Fabrik in Zukunft Prozesse neu gestalten wird.

Grafik: Fabrik der Zukunft

Die Chemiebranche im digitalen Wandel

Agile Lösungen und neue Geschäftsmodelle spielen zunehmend eine wichtige Rolle in der Chemieindustrie. Konzerne müssen sich daher auf große Veränderungen einstellen.

 

Wie das gelingen kann, lesen sie im folgenden Handelsblatt Beitrag von Dr.-Ing. Frank Jenner, Global Chemicals & Advanced Materials Industry Leader.

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Ökosysteme, Zusammenarbeit und gemeinsame Ziele ersetzen Einzellösungen

Diese Gemengelage hat weitreichende Folgen: Die Branche ist nicht mehr ausschließlich von wenigen großen Playern geprägt; stattdessen entstehen Ökosysteme, die auf gemeinsame Ziele hinarbeiten. Darin arbeiten nicht mehr nur einzelne Wettbewerber an ihren spezifischen Services und Produkten, sondern mehrere Akteure schaffen nebeneinander und oft zusammen in Netzwerken Gesamtpakete aus mehreren Bausteinen. Über Erfolg entscheidet somit nicht länger die Größe – stattdessen geht es darum, flexibel Chancen zu erkennen und Geschäftsmodelle neu zu denken. 

Drei Geschäftsmodelle versprechen anhaltenden Erfolg

Drei grundlegende Formen der Unternehmensausrichtung kristallisieren sich in diesem neuen Umfeld heraus.

Basisanbieter erzielen weiterhin ihre Resultate über Skaleneffekte mit eher traditionellen Geschäftsmodellen. Sie verwirklichen CO2-Einsparpotenziale beispielsweise über regionale Cluster und dadurch kürzere Lieferwege. Auffällig ist in diesem Umfeld die zunehmende Bedeutung chinesischer Unternehmen, deren Marktanteil bis Ende des Jahrzehnts auf geschätzt rund 50 Prozent steigen wird. Digitalisierung findet hier verstärkt auch im Backoffice statt.

Plattformanbieter bieten dagegen Handelsplattformen und agieren als Makler zwischen Basisanbietern, Kunden und spezialisierten Ökosystemen. Sie sind erfolgreich, weil sie Transaktionskosten senken, beispielsweise indem die standardisierten Marktplätze das individuelle Ausverhandeln zwischen zwei Geschäftspartnern ersetzen. Plattformen sind besonders geeignet für Transaktionen chemischer Basisprodukte, unter anderem auch für No Touch Orders ohne Eingreifen, vollautomatisches Lights-out Planning mit KI-gestützten Verfahren oder Profitable-to-Promise- beziehungsweise Available-to-Promise-Prozesse, die sicherstellen, dass Artikel an bestzahlende Kunden vergeben und auf ihre Verfügbarkeit überprüft werden. Generell besteht bei den Plattformen aber eine Skepsis gegenüber Betreibern, die selbst Marktanbieter sind – Unternehmen schließen sich Angeboten der direkten Konkurrenz nur zögerlich an.

Partnerschaften in Ökosystemen bestehen darin, dass alle Akteure als Partner agieren und gemeinsame Ziele verfolgen. Sie stammen teils aus unterschiedlichen Branchen und ermöglichen es mit unterschiedlicher Expertise, Lösungen zu schaffen, die allein über horizontale oder vertikale Integration nicht möglich wären. Große Vorteile entstehen durch die Schnelligkeit dieser oft agilen Kooperationen.

Die Transformation braucht vor allem eines: Schnelligkeit

Diese Umwälzungen zeigen, dass Unternehmen dringend die eigene Verortung und Weiterentwicklung vorantreiben müssen. Damit geht ein Paradigmenwechsel einher: weg von Großinvestitionen in neue Anlagen oder Firmenübernahmen, hin zu Analyse, Digitalisierung und kleinen Projekten.

Eine Unterteilung in vier Phasen ist hilfreich, um den Wandel der Branche nachzuvollziehen: Auf die Einleitung der Veränderung mit der Digitalisierung bestehender Geschäftsprozesse folgt in einer ersten Revolutionsphase eine Analyse dessen, was zum Kerngeschäft gehört und welche Angebote das Potenzial haben, ein eigenes Ökosystem zu bilden. Daran wird sich die zweite Revolutionsphase anschließen, in der Plattformen immer dezentraler agieren werden – mit einer Phase der grundlegenden Disruption zum Schluss.

Grafik: Vier Phasen zur Transformation

Die Zeitfenster im Kampf um Marktführerschaft werden kleiner

Die Aufgaben sind damit klar: Es geht für die chemische Industrie nicht mehr nur darum, digitale Technologien in bestehende Prozesse einzubinden; stattdessen stehen Abläufe, Strukturen und Formen der Zusammenarbeit vor einem kompletten Umbau. Dieser bietet viele Ansätze für neue Geschäftsmodelle – besonders für diejenigen Unternehmen, die nun schnell ihr Geschäft analysieren, umstellen und neue Felder abstecken. Beispiele wie Betriebssysteme, Smartphones oder Blockchain-Technologien zeigen, dass sich Marktführerschaft inzwischen immer früher beim Etablieren neuer Felder entscheidet.

Fazit

Größe allein wird künftig nicht mehr über Erfolg oder Misserfolg eines Chemieunternehmens entscheiden. Stattdessen werden auch kleine, agile Strukturen in komplexen Wirtschaftsökosystemen arbeiten, um gemeinsame Ziele zu erreichen.

Neben den schon jetzt etablierten Basisanbietern steigt die Bedeutung von Plattformanbietern und Partnern in diesen Ökosystemen. Es geht dabei nicht mehr nur darum, etablierte Prozesse zu digitalisieren, sondern neue Chancen zu erkennen und Geschäftsmodelle zu finden. Ein früher Einstieg ist wichtig – Marktführerschaft entscheidet sich in kleineren Fenstern als bisher.

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