Der EuGH hat sich in einem Urteil mit der Bemessung der Anschaffungskosten von Aktien auseinandergesetzt, wenn der Kaufpreis über einen längeren Zeitraum zinslos zu leisten ist.
Im Ausgangsverfahren ging es um eine belgische Gesellschaft, die von ihrem Geschäftsführer Aktien einer anderen Gesellschaft erworben hatte. Der Kaufpreis für die Aktien entsprach dem Anschaffungspreis, den der Verkäufer kurze Zeit zuvor entrichtet hatte. Er war in 16 halbjährlichen Raten zahlbar. Eine Verzinsung wurde weder vereinbart noch entrichtet.
Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens vor dem EuGH war die Frage, ob die Anschaffungskosten für die erworbenen Aktien in Höhe des mit einem marktüblichen Zinssatz diskontierten Barwerts der Kaufpreisraten oder in Höhe ihres Nominalwerts anzusetzen waren.
Der EuGH entschied in seinem Urteil vom 23.04.2020 (C-640/17, Rs. Wagram Invest), dass nach dem Grundsatz der Bilanzwahrheit der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage vermitteln soll. Dieser Grundsatz müsse aber im Lichte des Grundsatzes der Bewertung der Jahresabschlussposten zu Anschaffungs- und Herstellungskosten verstanden werden. Demnach „stützt sich das den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Bild, das der Jahresabschluss einer Gesellschaft vermitteln muss, auf eine Bewertung der Vermögensgegenstände nicht aufgrund ihres tatsächlichen Werts, sondern aufgrund ihrer ursprünglichen Kosten“.
Der EuGH bestätigt damit auch explizit seine – in der Literatur stark kritisierte – Rechtsprechung in der Rechtssache GIMLE, wonach es für die Zugangsbewertung allein auf den tatsächlich vereinbarten Kaufpreis ankommt (vgl. EuGH-Urteil v. 03.10.2013 – C-322/12). Inwiefern sich im Vorlagefall mögliche Konsequenzen aus einem Geschäft mit einer nahestehenden Person ergeben könnten (der Verkäufer war Geschäftsführer der erwerbenden Gesellschaft), lässt sich weder aus dem Sachverhalt ableiten noch wird dies vom EuGH näher thematisiert.
Zutreffend führt der EuGH im Fall Wagram Invest aus, dass unter Beachtung des Grundsatzes „Substance over form“ bei der Bemessung der Anschaffungskosten alle maßgeblichen Faktoren zu berücksichtigen seien, auch wenn sich diese nur implizit ableiten lassen. Die finanziellen Belastungen aus der impliziten Verzinsung der langfristigen Kaufpreisverbindlichkeit sind demnach bei der Bemessung der Anschaffungskosten der erworbenen Aktien mindernd zu berücksichtigen. Deren Anschaffungskosten entsprechen damit dem Barwert der Kaufpreisverpflichtungen. Der EuGH bestätigt damit auch die in Deutschland herrschende Auffassung (vgl. Beck’scher Bilanzkommentar, 12. Aufl., § 253 Rn. 66 f.; HdR-E, § 253 Rn. 64; Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 5. Aufl., E 523).
Hinsichtlich der Kaufpreisverbindlichkeit sah der EuGH – dem belgischen Bilanzrecht entsprechend – eine Bewertung in Höhe des Nominalwerts und den Ansatz eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens in Höhe der Differenz zwischen Nominal- und Barwert als zulässig an. Für die Bilanzierung in Deutschland wird demgegenüber inzwischen überwiegend eine Zugangsbewertung der Verbindlichkeit zum Barwert gefordert, falls in den Nominalwerten ein verdeckter Zinsanteil enthalten ist (vgl. HdR-E, § 253 Rn. 64; Prinz, DB 2020, S. 1426). Eine Zugangsbewertung der Verbindlichkeit zum Nominalwert und der Ansatz eines Rechnungsabgrenzungsposten, wie sie in der älteren Kommentarliteratur noch für zulässig erachtet wurden (vgl. ADS, § 253 Rn. 82 f.), werden dagegen inzwischen abgelehnt.
PO / SSC