Schon heute gibt es eine Vielzahl klimaneutraler Unternehmen, Services und Produkte. Nur wenige davon habe ihre Klimaneutralität durch eine vollständige Reduktion ihrer Emissionen erreicht. Die meisten werden durch Kompensation (engl. „to offset) der „unvermeidbaren Emissionen“ klimaneutral gestellt. Dafür werden in Klimaschutzprojekten außerhalb des eigenen Unternehmens Zertifikate erzeugt und anschließend zur Finanzierung des Projekts gehandelt, verkauft und stillgelegt. Im Zuge dieses Handels können sich Unternehmen diese querfinanzierten Emissionseinsparungen zuordnen lassen.
Für Investoren und ESG-Ratings spielt diese freiwillige Zusatzleistung bei der Bewertung von Unternehmen nur eine begrenzte Rolle, da die Maßnahme die klimawandelbedingten Risiken von Unternehmen und ihren Geschäftsstrategien nicht reduziert. Für Endkunden und Konsumenten hingegen ist die „Klimaneutralität“ schon heute mehr als nur ein Qualitätsmerkmal.
Daher ist es kein Wunder, dass das Volumen dieses freiwilligen Kompensationsmarktes seit 2015 stetig zugenommen hat. 2021 wird der Markt wohl den Wert von 1 Milliarde US-Dollar knacken, er liegt bereits 60 Prozent über dem Vorjahresniveau. Nach Szenarien der „Taskforce on Scaling Voluntary Carbon Markets“ könnte der freiwillige Markt 2030 die 15-fache Menge an CO2 stilllegen wie 2020.
Von Kyoto nach Paris
Doch das Regelwerk dieses unregulierten Marktes, das Kyoto-Protokoll, ist 2020 ausgelaufen. Alle Zertifikate des freiwilligen Marktes unterliegen ab dem Jahr 2021 dem Regelwerk des Pariser Klimaschutzabkommens. Der Vertrag verpflichtet nun alle 192 Staaten zu Klimaschutz im eigenen Land. Auch Entwicklungsländer müssen zuerst einmal ihre eigene Klimabilanz auf Vordermann bringen, bevor sie Leistungen aus Klimaschutzprojekten weiterverkaufen.
Dies birgt für den freiwilligen Markt einige Herausforderungen bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Standards. Die Regeln für den freiwilligen Handel wurden in Glasgow zu großen Teilen in Artikel 6 des Pariser Abkommens definiert:
Artikel 6.2 regelt den Handel von Emissionsminderungszertifikaten zwischen zwei oder mehreren Staaten. Das Pariser Abkommen spricht hier nicht von Zertifikaten, sondern von „internationally transferred mitigation outcomes” (ITMO). Um eine Doppelzählung auszuschließen, benötigen diese ITMO stets ein „corresponding adjustment“, einen neu geschaffenen Mechanismus, der durch ein transparentes Verfahren und korrekte Buchhaltung nachweisen soll, dass die ITMO im Einklang mit den nationalen Klimaschutzzielen (NDC) der Länder stehen. So hat etwa die Schweiz mit Peru ein Abkommen geschlossen, das auch Unternehmen auf dem freiwilligen Markt gegen den Vorwurf der Doppelzählung absichert.
Artikel 6.4 schreibt einen UN-Mechanismus fest, der den internationalen Zertifikatehandel steuert und überwacht. Er soll die Transparenz des Marktes und die Robustheit der Zertifikate stärken. Zudem sind klare Qualitätsanforderungen an die Projekte definiert. Auch unter dem Pariser Klimaabkommen müssen Klimaschutzprojekte eine Ambitionssteigerung zusätzlich zu den bestehenden nationalen Zielen liefern, damit Zertifikate ausgegeben werden können und somit handelbar sind. Zertifikate aus erneuerbaren Energieprojekten, die derzeit zu den günstigsten Zertifikaten auf dem freiwilligen Markt gehören, werden somit in absehbarer Zukunft vermutlich nicht mehr als NDC-konform gelten. Schließlich ist der Ausbau erneuerbarer Energien klarer Bestandteil vieler NDC.
Eine große Unklarheit herrscht über den Umgang mit ITMO, die keine „corresponding adjustments“ nachweisen. Diese könnten theoretisch von Unternehmen im Land der Erzeugung als Minderungsoption gehandelt und angerechnet werden. Wie ein solcher Handel inklusive der Anrechenbarkeit aussehen könnte, ist noch nicht final geklärt. Diskutiert wurde vor der COP26 im freiwilligen Markt daher, den „claim“ der Zertifikate zu ändern. Aus Zertifikaten, die die Reduktion einer Tonne CO2e nachweisen, könnte der Nachweis über die Finanzierung der Reduktion einer Tonne CO2 in einem Land werden. Das wäre dann „NDC-konform“, denn der Nachweis kann nicht als Handel mit einer Tonne CO2 gewertet werden.
Derzeit werden im freiwilligen Markt primär Zertifikate aus der Zeit des Kyoto-Protokolls gehandelt, die ein Ausstellungsdatum haben, das nicht älter als aus dem Jahr 2020 ist. Alle Zertifikate mit einem Ausstellungsdatum nach 2020 fallen unter das Regelwerk des Pariser Klimaschutzabkommen.
Von der Kompensation zu Neutralisation
Die Standards des freiwilligen Marktes (z. B. Verified Carbon Standard (VCS), Gold Standard) haben die vorherrschende Unsicherheit vor der COP in Glasgow zum Anlass genommen, ihr Portfolio zu diversifizieren. Zum einen wird vermehrt auf ganzheitliche positive Auswirkungen auf die Ökologie und die 17 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung eingegangen; zum anderen steht bereits heute häufiger die Neutralisation, also die langfristige Bindung, Speicherung und Weiterverwertung von Kohlenstoff, im Fokus.
Als Richtlinie für die Einordung der Ausgleichsprojekte dienen die „Oxford Principles for Net Zero Aligned Carbon Offsetting“. Diese unterscheiden zwischen der Vermeidung, der Reduzierung und der Eliminierungvon Treibhausgasen und auch zwischen lang- und kurzfristiger Kohelnstoffspeicherung. Marine Kohlenstoffspeicher, Aufforstung, Pflanzenkohle und technische Lösungen wie „Carbon Capture and Storage“ (CCS) oder „Carbon Capture and Utilization (CCU)“ bieten sich als Projekte an, die eine dauerhafte Bindung von CO2 erlauben.
Es geht nicht mehr um die „low hanging fruits“, also um große Mengen von günstigen CO2-Zertifikaten. Diese niedrig hängenden Klimaschutzfrüchte werden Entwicklungsländer aus eigener Kraft ernten. Statt Klimaschutz zum niedrigsten Preis werden auf dem freiwilligen Markt verstärkt die „high hanging fruits“ im Angebot sein. Dies liegt auch an den global steigenden CO2-Steuern, die die Grenze für Reduktionsvermeidungskosten nach oben schrauben.
Schon jetzt setzen Vorreiter darauf, ihre Emissionen mithilfe hochwertiger und teurer Projekte zur CO2-Abscheidung zu finanzieren. Diese Maßnahmen können (oft) auch für die eigenen „Netto-null“-Ziele („net zero“) angerechnet werden.
Diese Ziele kombinieren den Ansatz der Reduktionsziele, zum Beispiel anhand der Science-Based Targets, mit der Möglichkeit der Neutralisation von Restemissionen im Zieljahr und darüber hinaus. Hier bietet sich eine große Chance für den freiwilligen „Neutralisationsmarkt“ von morgen.