Kleines Mädchen klettert auf Strickleiter

Warum der Einkauf die „Spinne im Netz“ ist

Hier laufen die Fäden zusammen: Der Einkauf leistet als Schnittstelle in Unternehmen einen zunehmend wichtigen Beitrag zur Wertschöpfung.


Überblick

  • Vom Bestellbüro zum Unternehmensgestalter: Die Rolle des Einkaufs ist im Wandel.
  • Die Aufgaben werden komplexer, die Anforderungen höher. Strategisch gut ausgerichtet kann der Einkauf wesentlicher Werttreiber sein.
  • Die Mehrheit der Führungskräfte hat das erkannt, wie die EY-Umfrage „C-Level View on Future Procurement“ zeigt

Angesichts des unmenschlichen Leides, das Bilder aus der Ukraine vermitteln, rücken Fragen nach Wirtschaftswachstum und Umsatzeinbußen zu Recht ein Stück in den Hintergrund. Trotzdem erfordern Unsicherheit und Unruhe im Großen umso mehr Stabilität im Kleineren, damit das Fortbestehen eines Unternehmens in einem volatilen Umfeld gesichert werden kann. Allerdings ist diese Stabilität nicht etwa über Panikkäufe bestimmter Rohstoffe zu erreichen, die zwar Reserven schaffen können, aber gleichzeitig den Markt mindestens mittelfristig aus der Balance bringen.

Nach mehr als einem Jahrzehnt soliden Wirtschaftswachstums in verhältnismäßig ruhigem Fahrwasser steuert die Weltordnung stürmischen Zeiten entgegen – und mit ihr unter Umständen auch Unternehmen, die sich in „guten“ Zeiten zu wenig auf schlechtere vorbereitet haben. Eine zentrale Rolle spielt in dieser Hinsicht der Einkauf, der als Schnittstelle und zur Steuerung unternehmensübergreifender Themen zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Für die Umfrage „2022 C-Level View on Future Procurement“ hat EY Führungskräfte aus neun Branchen zu ihrer Sicht auf die Zukunft der Einkaufsorganisation befragt.

Vom Beschaffer zum Gestalter: die Entwicklung des Einkaufs

Der Einkauf – das war früher das Büro, in dem die einzelnen Fachabteilungen ihre Bestellungen aufgegeben haben. Damals leistete der Einkauf schon gute Arbeit, wenn er durch Verhandlungen Preisreduktionen erzielt hat, das wurde als Erfolg gefeiert. Diese Zeiten sind (längst) vorbei.

Die Wertschöpfung hat sich mittlerweile mehr und mehr auf die Lieferanten verlagert. Ein produzierendes Unternehmen zum Beispiel generiert die Wertschöpfung etwa zur Hälfte über Zukaufteile, zur anderen durch eigene Leistungen. Daraus resultieren zwei wesentliche Punkte:

  • Die Einkaufskosten haben einen direkten Effekt auf das Ergebnis.
  • Die Abhängigkeit von den Lieferanten ist stark gestiegen.

Die Corona-Pandemie und die Ukraine-Krise verdeutlichen massiv, wie sensibel Lieferketten geworden sind, weil sie inzwischen ein weltweit weitverzweigtes Geflecht umfassen. Die Disruption eines Lieferkettenglieds – möglicherweise Tausende Kilometer entfernt – kann sich nachhaltig bemerkbar machen und zeigt die komplexen Abhängigkeiten innerhalb der Lieferkette auf. Lieferengpässe zeigen, dass die Lieferkette anfällig für Kettenreaktionen ist: Ist ein Unternehmen im Inland nicht lieferfähig, kann es daran liegen, dass die Zulieferer im Ausland es nicht sind.

Wer sich im Vorfeld mit diesen möglichen Szenarien beschäftigt und ihnen durch strategische Maßnahmen begegnet ist, dem gelingt es, in diesen Zeiten besser mit den Herausforderungen umzugehen. Die Mehrheit des C-Levels hat erkannt, dass der Einkauf inzwischen Schnittstelle für viele relevante Themen ist.

Working Capital und Schnittstellenthemen
der Befragten sehen den Einkauf hier als wichtigen Werttreiber.

Von Sourcing bis Sustainability: der Einkauf als Werttreiber

Einkauf bedeutet heute weit mehr als die Abwicklung von Materialbestellungen. Voraussetzung für eine exzellent aufgestellte Einkaufsorganisation ist die Transparenz von Lieferketten. Was wird wo und von wem produziert und über welche Logistikwege geliefert? Hier den Überblick – auch in den vorgelagerten Stufen – zu haben und zu bewahren hilft in mehrfacher Hinsicht, zum Beispiel beim Risikomanagement: Der Fall des Containerschiffs „Ever Given“, das 2021 im Suezkanal auf Grund gelaufen ist, hat gezeigt, wie die Blockade einer wichtigen Handelsroute den globalen Handel beeinflussen kann. Technologische Unterstützung, beispielsweise durch Simulationen zu Blockaden von Seehäfen und Handelskonflikten, kann helfen, etwaige Risiken besser zu identifizieren und zu mitigieren. Außerdem lassen sich Szenarien durch Technologie vorausschauend abbilden, sodass alternative Sourcing-Möglichkeiten strategisch geplant werden können.

Ein gutes Risikomanagement des Einkaufs stabilisiert die Versorgungssicherheit und leistet somit einen wichtigen Wertbeitrag.

 

Diese Datentransparenz ist auch beim Thema Nachhaltigkeit unverzichtbar. Denn nur wenn man weiß, an welchen Standorten unter welchen Bedingungen produziert wird beziehungsweise welche Transportwege und ­mittel genutzt werden, kann basierend auf diesen Daten die Emissionsreduktion forciert werden. Und die ist unerlässlich, wie die weitreichenden Maßnahmen der EU im Rahmen des Green Deals zum Klimaschutz zeigen: Lieferkettengesetz, Plastiksteuer, Carbon Border Tax und die Berichtspflicht der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) sind nur einige davon. Die Kennzahlen für Nachhaltigkeit im Jahresbericht kann die Finanzabteilung nicht liefern – aber der Einkauf durch den engen Informationsaustausch mit seinen Lieferanten. Allein hier zeigen sich bereits die zunehmende Verflechtung von Aufgaben und der erhebliche Beitrag des Einkaufs zur Wettbewerbsfähigkeit und zum Erfolg des Unternehmens.

 

Neben Klimaschutzzielen verfolgt die EU das Ziel, Produktionskapazitäten vor allem aus Asien verstärkt zurück nach Europa zu holen, um so Abhängigkeiten zu vermeiden, die sich in der jüngsten Vergangenheit als äußerst nachteilig herausgestellt haben. In Anbetracht des Krieges in der Ukraine drängt die Politik derzeit sogar direkt in die Umleitung von Supply Chains. Vor diesem Hintergrund sollten Unternehmen jetzt in den strategischen Prozess einsteigen und überlegen, ob – und wenn ja wie – Produktionen unter Umständen wieder auf dem heimischen Kontinent etabliert werden könnten.

Unternehmen, die das Potenzial des Einkaufs ausschöpfen möchten, sollten dessen vernetzte Kollaboration in der gesamten Organisation fördern. Häufig hat das Management diese Notwendigkeit bereits erkannt, in manchen Unternehmen verharrt es jedoch noch in der getrennten Betrachtung von Abteilungen, was früher oder später zu Problemen führen wird.

Vom Upskilling bis zur strategischen Umsetzung: der Einkauf als Dirigent

Um den Einkauf als Wertschöpfer zu positionieren, darf er nicht isoliert stehen. Im Gegenteil: Er ist die Spinne im Netz. Denn der Einkauf orchestriert eine ganze Reihe von Stakeholdern, Akteuren und Prozessen und steuert damit gleichzeitig auch deren Effizienz. Seine Fäden spinnt er von internen Bedarfen in externe Lieferantenmärkte, über Logistikflüsse und finanzielle Prozesse, wodurch er automatisch in Interaktion mit der Finanzabteilung, der Steuerabteilung, dem Zoll und weiteren Akteuren tritt. Unternehmen, die dieses Potenzial ausschöpfen möchten, sollten die vernetzte Kollaboration mit dem Einkauf in der gesamten Organisation fördern. Häufig hat das Management diese Notwendigkeit bereits erkannt, das zeigt auch die

EY-Untersuchung. In einigen Unternehmen verharrt es jedoch noch in strikter Funktionstrennung der Abteilungen, wodurch ein Silodenken und prozessuale Ineffizienzen gefördert werden. Denn die Rollenfunktion des Einkaufs verändert sich, sein Wertbeitrag liegt nicht länger allein in der Preisgestaltung, sondern vor allem auch in der strategischen Umsetzung der aufgeführten Themen.

Die Komplexität der Aufgabenstellung unter globalen und unternehmerischen Aspekten wird zu einem Upskilling – der gezielten Weiterentwicklung von Fähigkeiten – bei Einkäufern führen, die über vielfältigere Fähigkeiten verfügen müssen, um zukünftige Anforderungen erfüllen zu können. Dazu gehören vor allem Skills in Kommunikation und Projektmanagement. Die Digitalisierung wird hierbei eine neue Ebene erreichen, auf der Systeme eigenständig und automatisch Entscheidungen treffen, beispielsweise ein Bot, der bei geringfügigen Verträgen verhandelt und Preissenkungen erfragt. Das erzeugt auf operativer Ebene die Entlastung, die Einkäufer brauchen werden, um sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen. Dazu können Fragen nach alternativen Lieferanten, die Gestaltung der Zusammenarbeit mit Vertrieb oder Forschung und Entwicklung oder die Absicherung von Rohstoffen gehören.

Die EY-Erfahrung hat gezeigt: Bei mehr als der Hälfte der betreuten Projekte erhöht sich im Anschluss die Zahl der Mitarbeiter im Einkauf, damit Ansprüche an Quantität und Qualität erfüllt werden können. Diese Grundlage ist erforderlich, um die künftige Rolle des Einkaufs auszufüllen. Ein vorausschauendes Management hat die Bedeutsamkeit der Einkaufsabteilung längst ausgemacht. Die menschliche Ressource ist die teuerste, aber auch die wertvollste.

Co-Autoren: Florian Keidel, Lukas Benz


Fazit

In unbeständigen, unsicheren Zeiten wie diesen zeigt sich einmal mehr: Wer sein Unternehmen vorausschauend gesteuert hat, steht besser da. Das gilt bei den aktuellen großen Problemen in der Supply Chain vor allem für die, deren Einkauf strategisch als Werttreiber des Unternehmens ausgerichtet ist. Vernetzt mit allen wichtigen Abteilungen und versorgt mit digitaler Unterstützung – beides wird künftig unumgänglich sein.

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