Anders als gebietsansässige Gesellschaften müssen gebietsfremde Gesellschaften für die Erstattung von beim Bezug von Streubesitzdividenden einbehaltener Kapitalertragsteuer strengere Anforderungen erfüllen. Den Nachweis für eine in § 32 Abs. 5 KStG normierte Anforderung stuft der EuGH für EU-Gesellschaften als unionsrechtswidrig ein.
Im zugrundeliegenden Fall einer in Großbritannien (damals noch EU-Mitgliedstaat) ansässigen Kapitalgesellschaft mit Streubesitzanteilen in Deutschland war insbesondere fraglich, ob die Anforderungen des § 32 Abs. 5 KStG mit der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV vereinbar sind. Für gebietsfremde Gesellschaften setzt § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 i.V.m Satz 5 KStG für die Erstattung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer (KESt) voraus, dass die KESt nicht bei ihnen oder ihren unmittelbaren oder mittelbaren Anteilseignern angerechnet oder als Anrechnungsvortrag berücksichtigt oder als Betriebsausgabe oder Werbungskosten abgezogen werden kann. Dies ist über eine Bescheinigung der ausländischen Steuerverwaltung nachzuweisen. Für gebietsansässige Gesellschaften gilt eine derartige Anforderung nicht.
Der EuGH folgte in seinem Urteil vom 16.06.2022 (C-572/20) den Schlussanträgen des Generalanwalts Collins vom 20.01.2022 und entschied, dass der deutschen Regelung die Kapitalverkehrsfreiheit entgegensteht. Die Ungleichbehandlung zwischen den gebietsansässigen und gebietsfremden Gesellschaften ist laut EuGH nicht gerechtfertigt. Während gebietsansässige Gesellschaften in den Genuss einer sofortigen Anrechnung und ggf. einer Erstattung des Restbetrags der abgeführten KESt kommen, ist eine Anrechnung und ggf. eine Erstattung der KESt bei einer gebietsfremden Gesellschaft nur unter strengeren Bedingungen möglich.
Diese Ungleichbehandlung wäre dann zulässig, wenn die Situation der gebietsansässigen und gebietsfremden Gesellschaften objektiv nicht vergleichbar wäre. Die beiden Kategorien der Gesellschaften befinden sich jedoch in einer vergleichbaren Situation, da Deutschland sich dafür entschieden hat, sämtliche Dividenden aus Streubesitzanteilen unabhängig davon zu besteuern, ob sie an gebietsansässige oder gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden.
Zwingende Gründe des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung sind laut EuGH nicht gegeben. Weder ist die Ungleichbehandlung zur Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten noch zur Vermeidung der doppelten Berücksichtigung der Quellensteuer erforderlich. Zur Verhinderung der doppelten Berücksichtigung der Quellensteuer führt der EuGH aus, dass ein solches Ziel in kohärenter und systematischer Weise erreicht werden muss. Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt, wenn ein Mitgliedstaat die Erstattung von Quellensteuer für eine gebietsfremde Gesellschaft an strengere Voraussetzungen als bei gebietsansässigen Gesellschaften knüpft und das, obgleich eine doppelte Berücksichtigung der Quellensteuer bei gebietsansässigen Gesellschaften auch nicht ausgeschlossen werden kann. Eine Erstattung der entrichteten KESt dürfe demnach nicht von dem Nachweis abhängig sein, dass die Steuer bei der gebietsfremden Gesellschaft oder ihren unmittelbaren oder mittelbaren Anteilseignern nicht angerechnet oder als Anrechnungsvortrag berücksichtigt oder abgezogen werden kann.
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage war die zweite Frage (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie das Prinzip des „effet utile“) vom EuGH nicht zu beantworten. Da Großbritannien im Zeitpunkt des Streitfalls noch EU-Mitglied war, stand die Frage eines etwaigen Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit in Drittstaatenfällen laut EuGH nicht im Zusammenhang mit dem Ausgangsrechtsstreits und wurde daher nicht beantwortet.
Der Volltext des Urteils steht Ihnen auf der Internetseite des EuGH zur Verfügung.
Direkt zum EuGH-Urteil kommen Sie hier.
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