Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben sind in den letzten Jahren immer mehr verschwommen. Besonders belastend ist für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die ständige Erreichbarkeit. Sie ist längst nicht mehr nur für Führungskräfte oder im Bereitschaftsdienst Beschäftigte zu einem der wesentlichsten Stressfaktoren geworden. Studien zeigen, dass diese Art der Dauerbelastung beispielsweise zu Bluthochdruck, Infektionskrankheiten und im Extremfall zu Burnout führen kann. Inzwischen steht die Erreichbarkeit außerhalb der regulären Arbeitszeiten auch arbeitsgerichtlich auf dem Prüfstand. Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein hat mit Urteil vom 27.09.2022 entschieden, dass Arbeitnehmer während ihrer Freizeit nicht dazu verpflichtet sind, dienstliche Mitteilungen zu lesen (Az. 1 Sa 39 öD/22). Ob das Bundesarbeitsgericht (BAG) dies auch so sieht, bleibt abzuwarten.
Sachverhalt
Der Kläger ist bei der Beklagten als Notfallsanitäter tätig. Für das Arbeitsverhältnis gilt eine Betriebsvereinbarung, die kurzfristige Dienstplanänderungen ermöglicht. Um dem Kläger während seiner Freizeit eine solche Dienstplanänderung mitzuteilen, versuchte die Beklagte erfolglos, den Kläger telefonisch zu erreichen und schickte ihm daraufhin eine SMS, die dieser nicht zur Kenntnis nahm. Am Folgetag trat der Kläger seinen Dienst an – dies jedoch zu einem späteren Zeitpunkt, als es der geänderte Dienstplan vorsah.
Da sich der Kläger aus Sicht der Beklagten verspätet zum Dienst gemeldet hatte, setzte sie ihn an diesem Tag nicht weiter ein, wertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und nahm Abzüge vom Arbeitszeitkonto des Klägers vor. Ein ähnlicher Vorgang wiederholte sich einige Monate später, woraufhin die Beklagte den Kläger wegen unentschuldigten Fehlens abmahnte. Hiergegen erhob der Kläger Klage am Arbeitsgericht Elmshorn, das die Klage abwies.
Entscheidung
Das LAG Schleswig-Holstein gab der Klage in der Berufungsinstanz statt. Der Kläger sei nicht dazu verpflichtet, sich in seiner Freizeit über Dienstplanänderungen zu erkundigen. Entsprechende Miteilungen und Anrufe des Arbeitgebers müsse er in seiner Freizeit nicht zur Kenntnis nehmen bzw. entgegennehmen, da dies eine Arbeitsleistung darstelle. Vielmehr stehe dem Kläger in seiner Freizeit ein Recht auf Unerreichbarkeit zu.
Das LAG Schleswig-Holstein stellt dabei klar, dass Freizeit sich gerade dadurch auszeichne, dass Arbeitnehmer ihren Arbeitgebern in diesem Zeitraum nicht zur Verfügung stehen müssen und selbstbestimmt entscheiden können, wie und wo sie ihre Freizeit verbringen und für wen sie in dieser Zeit erreichbar sein wollen oder nicht. Dieses Recht gehöre zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten.