5 Minuten Lesezeit 1 Juni 2021
Bio-Kleid auf einem Kleiderbügel

Warum Nachhaltigkeit für den Handel auch Differenzierung bedeuten kann

Von Kerstin Lehmann

Partnerin, Retail, EY-Parthenon GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft | Deutschland

Strategin. Innovative Denkerin. Spricht Klartext. Engagierte Dozentin und Mentorin. ÖPNV-Superheldin.

5 Minuten Lesezeit 1 Juni 2021

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  • Nachhaltigkeit im Handel Pfl ichterfüllung oder Element der Differenzierung?

Bislang geht es vielen Handelsunternehmen und Markenherstellern beim Thema Nachhaltigkeit noch vor allem um Risikovermeidung.

Überblick

  • Trotz oder auch wegen der Krise gewinnt das Thema Nachhaltigkeit für Konsumenten und Handel weiter an Bedeutung.
  • Weite Teile des Handels sehen in Nachhaltigkeitsaktivitäten jedoch weniger das kommerzielle Potenzial und die Möglichkeit zur Differenzierung.
  • Die EY-Parthenon-Studie „Nachhaltigkeit im Handel: Pflichterfüllung oder Element der Differenzierung?“ analysiert die aktuelle Situation. 

Die Entwicklung zeichnet sich deutlich ab: Für jeden Dritten wird Nachhaltigkeit im Konsumverhalten eine größere Rolle spielen – das ist ein Ergebnis des EY Future Consumer Index. Doch: Handelt der Handel danach? Bisher nur unzureichend, was wiederum die EY-Parthenon-Analyse von mehr als 570 Nachhaltigkeitsaktivitäten von Unternehmen und eine Selbstauskunft von 49 Händlern im deutschen Markt zeigt. Nachhaltigkeit als Pflichterfüllung oder Element der Differenzierung? Der Handel steht vor der Wahl und damit auch vor der Entscheidung.

Zwar integrieren die meisten Händler das Thema Nachhaltigkeit entlang ihrer Wertschöpfungskette, hinsichtlich des Anspruchs und der Zielsetzung bestehen jedoch große Unterschiede. Viele verfolgen vor allem eine Risikovermeidungsstrategie und lassen das Potenzial für wirtschaftliches Wachstum und Differenzierung außer Acht, das Nachhaltigkeit bietet. Ihre Aktivitäten richten sich entsprechend eher auf die Wertschöpfungsstufen von Beschaffung und Produktion. Auflagen einhalten: ja, um Skandale und Strafen zu vermeiden. Einen USP aus Nachhaltigkeit entwickeln oder sie nutzen, um sich von Wettbewerbern abzusetzen: nein, wozu?

Strategische Vorteile, die sich aus Nachhaltigkeit ableiten, sind für Händler oft schwer zu greifen. Für sie besteht wenig Klarheit darüber, inwieweit Nachhaltigkeitsaktivitäten den Konsum der Verbraucher beeinflussen.

Die Erkenntnis, dass Corporate Social Responsibility (CSR) nicht nur aus Gründen der sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung immer wichtiger für Unternehmen wird, sondern auch für wirtschaftliches Wachstum, setzt sich im Handel offenbar erst langsam durch. Dem liegen zwei Ursachen zugrunde: Strategische Vorteile, die sich daraus ableiten, liegen nicht immer offen auf der Hand und sind für Händler daher schwer zu greifen. Zudem besteht für Händler wenig Klarheit darüber, inwieweit Nachhaltigkeitsaktivitäten den Konsum der Verbraucher beeinflussen. Solange dieser Wert schlecht messbar ist, wird er auch in der Budgetplanung wenig berücksichtigt.

Nicht nur das Konsumverhalten wird sich ändern, auch der Industrie steht ein Wandel bevor – hin zu einer Kreislaufwirtschaft, die in Anbetracht von Klimazielen und Ressourcenschonung auch Produktion und Logistik betrifft. Ein Beispiel: Seit Juli 2019 ist eine EU-Richtlinie über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt in Kraft getreten, die genau diesen Umbau fördern soll. Bis zum Sommer 2021 soll die Richtlinie europaweit in nationales Recht übergehen. Auch das neue, ab 2023 geltende Lieferkettengesetz nimmt Unternehmen in die Verantwortung, Menschenrechte an ausländischen Produktions- oder Zulieferungsstandorten stärker zu schützen.

Konsum wird nachhaltiger – der Handel nur bedingt

Obwohl der Druck von außen für alle steigt, gibt es seitens des Handels keine erkennbare Einheitlichkeit im Ansatz für mehr Nachhaltigkeit. Ihre Maßnahmen reichen von vereinzelten, kleinen bis zu umfangreichen Katalogen. Doch auch unabhängig von Gesetzgebungen können Händler ihre Maßnahmen beispielsweise anhand von Kostenerwartungen und geschätztem Verbraucherinteresse ausrichten. Darin besteht die Chance, als Vorreiter statt Nacheiferer zu agieren und sich bereits vor der Festlegung rechtlicher Vorgaben zu positionieren und differenzieren. Das bestätigt auch ein Blick auf die Gründerszene: Es geht kaum ein Start-up mehr an den Start, das sich nicht entweder durch seine Produkte selbst und/oder beispielsweise CO2-Neutralität von Beginn an als Teil der Green Economy positioniert. Und zwar nicht als Muss, sondern als selbstverständlicher Beitrag.

In puncto Differenzierung hat der Lebensmittelhandel derzeit die Nase vorn: Er weist in allen Preisstufen einen deutlich höheren Anteil an differenzierenden Merkmalen auf als beispielsweise der Textilhandel oder Drogeriemärkte.

Gegenüber Unternehmen mit eigener Produktion und entsprechend langer Wertschöpfungskette sind reine Händler im Nachteil, weil sie lediglich positive Aktivitäten bezüglich ihrer Eigenmarken oder Zulieferer hervorheben können. Die umsatzstärkeren unter ihnen könnten allerdings Marken zu nachhaltigem Handeln bewegen, auch wenn es bislang häufig noch bei Absichtserklärungen und konservativen Zielsetzungen bleibt.

In puncto Differenzierung hat der Lebensmittelhandel derzeit die Nase vorn. Hier stehen selbst günstige Preise nicht im Widerspruch zu Nachhaltigkeit: Er weist in allen Preisstufen einen deutlich höheren Anteil an differenzierenden Aktivitäten auf als beispielsweise der Textilhandel oder Drogeriemärkte.

Differenzierung öffentlichkeitswirksam nutzen: Vorbild Outdoor-Ausstatter

Im sonstigen Handel, auch das zeigt die Studie, werden Nachhaltigkeitsaktivitäten eher von höherpreisigen Formaten betrieben als von günstigeren: Quer durch alle Branchen ist der Anteil differenzierender oder werteorientierter Aktivitäten fast doppelt so hoch wie bei Discountern. Was auch daran liegt, dass sich nachhaltige Rohstoffe und die Einhaltung sozialer Standards wie bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung eben leichter über höhere Preise refinanzieren lassen.

An dieser Stelle fällt auch die Zielgruppe ins Gewicht, was ein Vergleich zwischen Textilindustrie und Outdoor-Ausstattern bestätigt. Textilhändler haben hinsichtlich der Nachhaltigkeit meistens nur einen risikominimierenden Anspruch, zum Beispiel in Bezug auf Menschrechte in fernen Produktionsländern oder dem nachhaltigen Sourcing. Outdoor-Spezialisten gehen ebenfalls ähnliche Themen an, formen daraus aber für sich eine Differenzierung, die sie transparent darstellen. Die fast durchweg sehr umweltbewusste Zielgruppe nimmt das begeistert wahr und an.

Die Outdoor-Ausstatter machen vor, wie differenzierend Nachhaltigkeit wirken kann, wenn sie im Geschäftsmodell fest verankert ist. 

 

Das zeigt sich auch im Social-Media-Bereich, in dem „Sports & Outdoor“-Händler es häufig schaffen, mit ihren Posts positive Empfindungen bei ihren Kunden zu erzeugen, auch durch die erfolgreiche Vermarktung von Nachhaltigkeitsaktivitäten an dieser Stelle. Grundsätzlich ist die Wahrnehmung von Kunden nicht automatisch deckungsgleich mit den tatsächlichen Aktivitäten eines Unternehmens. Die Outdoor-Spieler machen jedoch vor, wie differenzierend Nachhaltigkeit wirken kann, wenn sie im Geschäftsmodell fest verankert ist. 

Gerade Social Media zeigt, dass die Bemühungen der Händler um Risikovermeidung absolute Berechtigung haben. Ein Skandal kann sich über Wochen ziehen, enorme Reichweiten erlangen und braucht lange, bis er aus den Chroniken und Köpfen wieder verschwunden ist. Doch es lohnen sich ein Blick und ein Schritt darüber hinaus, um das Potenzial von Nachhaltigkeitsaktivitäten für Differenzierung und kommerziellen Erfolg zu nutzen. Die Corona-Krise hat das Thema Nachhaltigkeit verstärkt, das Bewusstsein für Umwelt und Miteinander geschärft. Daraus resultiert Veränderung, auch im Verbraucherverhalten. Konsumenten hinterfragen immer mehr und hartnäckiger. Und es wäre gut, wenn der Handel Antworten hat.

Fazit

Die Studie „Nachhaltigkeit im Handel: Pflichterfüllung oder Element der Differenzierung?“ untersucht die Nachhaltigkeitsaktivitäten des CPR-Sektors (Consumer Products & Retail). Denjenigen, die hierbei vor allem auf die Minimierung von Risiken und die Vermeidung von Skandalen bedacht sind, könnte etwas entgehen: die Chance darauf, als Unternehmen einen Unterschied zu machen, in der Kundenwahrnehmung und damit auch für profitables Wachstum.

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Von Kerstin Lehmann

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