6 Minuten Lesezeit 18 August 2021
Nachtansicht der Brücke

Warum die Autobranche bei der Transformation auf Sicht fahren sollte

Autoren
Constantin Gall

Managing Partner Strategy and Transactions

Hat jahrzehntelange Erfahrung in der Strategie- und Transaktionsberatung sowie in der Automobilbranche. Ist auch privat ein Autoenthusiast und geht gerne mit Familie und Freunden auf Reisen.

Kevin Rebbereh

Director, Automotive Strategy, EY-Parthenon GmbH

Tech and auto enthusiast. Builds new concepts, promotes innovation and develops best practices. Endurance athlete and family man. Sees entrepreneurialism as a team sport.

6 Minuten Lesezeit 18 August 2021

Die strategische Transformation der Automobilindustrie ist im vollen Gange. Wer vom Wandel profitieren möchte, sollte einiges beachten.

Überblick
  • Getrieben unter anderem vom gesetzlichen Druck schreitet die Elektrifizierung der Automobilbranche rasant voran.
  • Die Transformation führt zu einer raschen Verschiebung der Value und Profit Pools. 
  • Ein Erfolgsfaktor innerhalb abnehmender und wachsender Märkte ist die Flexibilisierung der Organisation durch selbstständige Geschäftseinheiten – die sogenannten Strategic Business Groups.

Noch vor einigen Jahren philosophierte die Automobilbranche über die Frage, wann sich Elektrofahrzeuge durchsetzen werden. Die Frage braucht nicht mehr diskutiert zu werden – die Zukunft ist da. Nur die wenigsten haben die rasante Verbreitung von rein batteriebetriebenen Elektrofahrzeugen vorhergesagt, und die meisten sind überrascht von der hohen Geschwindigkeit. Dies ist auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen. Hierzu zählen der weltweit verstärkte gesetzliche Druck wie beispielsweise in Europa das „Fit for 55“-Paket, US-Präsident Joe Bidens Elektrofahrzeug-Agenda oder Chinas 2050-Plan. Auch die Anreize zur Senkung der Gesamtbetriebskosten und ein starker Stimmungswandel bei den Verbrauchern in Bezug auf die Art und Weise, wie Mobilität genutzt wird und wie sie angetrieben werden sollte, zählen dazu.

In den letzten 18 Monaten haben zahlreiche Original Equipment Manufacturers (OEMs, dt. Fahrzeughersteller) ambitionierte Neuausrichtungen ihrer Strategien in Richtung elektrifizierter Portfolios angekündigt. Dabei bleibt festzuhalten, dass die OEMs, die in ihrer Kommunikation am aggressivsten vorgingen und eine reine Elektroauto-Flotte ankündigten, eine signifikante Überperformance auf den Kapitalmärkten gegenüber ihren Konkurrenten aufwiesen. 

Der EY My Mobility Lens Consumer Index unterstreicht den Stimmungswandel bei den Kunden: Mehr als 41 Prozent derjenigen, die den Kauf eines Neuwagens planen, ziehen ein Elektroauto in Betracht – 66 Prozent in den nächsten 12 Monaten. Das ist ein Anstieg von 11 Prozent gegenüber der ersten Pandemiewelle 2020. 

Der jüngste EY My Mobility Lens Consumer Index unterstreicht den starken Stimmungswandel bei den Kunden: Mehr als 41 Prozent derjenigen, die den Kauf eines Neuwagens planen, ziehen ein Elektroauto in Betracht – 66 Prozent in den nächsten 12 Monaten. Das ist ein Anstieg von 11 Prozent gegenüber der ersten Welle der Pandemie im vergangenen Jahr. Darüber hinaus stehen erstmals in allen Altersgruppen Umweltaspekte ganz oben auf der Liste der Gründe für die Anschaffung eines Elektroautos.

Kapitalgeber bevorzugen eine einfache Equity Story

Der aggressive Ansatz in Richtung Elektrifizierung führt zu einer raschen Verschiebung der Value und Profit Pools. So wird etwa ein Drittel des Wertes der Komponenten traditioneller, mit einem Verbrennungsmotor angetriebener Autos entweder obsolet sein oder teils stark vereinfacht werden. Darüber hinaus werden zukünftig die Motoren voraussichtlich nicht mehr das Herzstück des Autos sein, sondern ein Computerprozessor, der von verschiedenen Softwareanwendungen gesteuert wird.

Aber auch über das ökologische Produktportfolio hinaus wird Nachhaltigkeit ein immer wichtigeres Thema auf der strategischen Agenda von Automobilunternehmen. Dabei geht es unter anderem um Aspekte, die in der Wertschöpfungskette vor- und nachgelagert sind. Dekarbonisierung sowie soziale und ökologische Governance-Faktoren sind keine Mitläuferthemen, sondern rücken in den Vordergrund strategischer Diskurse. Insbesondere die häufig komplexen und vernetzten Produktportfolios stellen im Hinblick auf diese Dynamiken eine wesentliche Herausforderung dar. Portfoliokomplexität vernichtet nicht nur Profit, sondern erschwert die Kapitalbeschaffung wesentlich. Denn das Gros der Kapitalgeber sieht Unternehmen mit simplen Equity Stories als die Gewinner. Vielschichtige Produktkonglomerate erschweren das Verständnis der wahren Essenz des Unternehmens und schaffen starke Intransparenz hinsichtlich neuer, wesentlicher Erfordernisse wie zum Bespiel verschiedenster ESG-Aspekte.

Um die Attraktivität für Investoren sicherzustellen und somit gleichzeitig die eigene Flexibilität zu erhöhen, bedarf es schnellen und entschlossenen Handelns bei der Strukturierung des Produktportfolios, der dahinter liegenden Organisation und Prozesse sowie der Definition einer klaren Equity Story im Einklang mit einer fest umrissenen Strategie und Umsetzungsplanung.

Ein ganzheitlicher Perspektivwechsel bei OEMs und Automobilzulieferern ist notwendig, um die auslaufenden Produkte und die neuen Wachstumsfelder erfolgreich parallel zu managen.

Die voranschreitende Umwälzung innerhalb der Fahrzeugarchitektur trägt ihren Teil zu diesem Dilemma bei. Ein ganzheitlicher Perspektivwechsel bei OEMs und Automobilzulieferern ist notwendig, um die auslaufenden Produkte und die neuen Wachstumsfelder erfolgreich parallel zu managen. Auf der einen Seite sollte innerhalb eines Ausproduktionsszenarios in den Lieferketten des Verbrennungsmotors das Ziel von maximalen Effizienzgewinnen dem Ziel maximaler langfristiger Versorgungssicherheit weichen. Auf der anderen Seite bedarf auch die Refinanzierung starker neuer Argumente. Denn Investitionen in den Verbrenner werden abnehmen und damit die Möglichkeiten zur Innenfinanzierung, zum Beispiel durch den Verkauf einzelner Geschäftseinheiten.

Eine offene Kommunikation und die Gewährleistung von Transparenz können helfen, die notwendige Glaubwürdigkeit bei den Kapitalgebern sicherzustellen. Insgesamt werden dabei isolierte Verbesserungsmaßnahmen für Automobilzulieferer voraussichtlich nicht mehr die gewünschte Wirkung erzielen. Stattdessen sollte ein ganzheitlicher Transformationsansatz im Einklang zwischen strategischen, finanziellen und operativen Faktoren gewählt werden. Denn es ist wichtig festzuhalten, dass selbst mit Komponenten, die in absehbarer Zeit weitgehend obsolet sein werden, durch effektives und proaktives Management noch Geld verdient werden kann – allerdings für wesentlich weniger Unternehmen, und zwar für solche mit entsprechend angepassten Geschäftsmodellen.

Auf die richtigen Partner setzen

Auch im Bereich der neuen Wachstumsfelder gibt es klare Regeln zu den Themen „how to win“ und „how to execute“. Häufig erfordern sie erheblichen Einsatz von Kapital und weiteren Ressourcen bei noch sehr ungewisser zukünftiger Rentabilität, zumal der Wettbewerb intensiv ist und eine Vielzahl von (teils neuen) Akteuren denselben, auch in Zukunft begrenzten Profit Pool für sich gewinnen will (zum Beispiel Batterie, Wasserstoff, autonomes Fahren, Softwareanwendungen). Die Einbindung von Partnern mit komplementären Ressourcen und Fähigkeiten könnte ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal bei der Erschließung neuer Einnahmequellen sein. Partnerschaften ermöglichen es, Kosten und Risiken zu teilen und gleichzeitig kosteneffektiv Kompetenzen in den neuen Wachstumsbereichen zu bündeln. Außerdem können gemeinsam kapitalintensive Projekte bewältigt werden, die man allein nicht hätte finanzieren können. Aber auch hier gilt: Um die Vorteile von Partnerschaften erfolgreich zu nutzen, sollten die Geschäftsmodelle der einzelnen Partner speziell für eine erfolgreiche Kollaboration konzipiert werden.

Die Einbindung von Partnern mit komplementären Ressourcen und Fähigkeiten könnte ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal bei der Erschließung neuer Einnahmequellen sein. Partnerschaften ermöglichen es, Kosten und Risiken zu teilen und gleichzeitig kosteneffektiv Kompetenzen in den neuen Wachstumsbereichen zu bündeln. 

Mit Strategic Business Groups das Zielbild erreichen

Unabhängig davon, ob man sich in einem Wachstumssegment bewegt, ob man versucht, auslaufende Produkte effektiv zu managen, oder sogar beides gleichzeitig: Ein erster, aber äußerst wichtiger Schritt zum Erfolg ist die Flexibilisierung der Organisation. Dieser geht einher mit der Veränderung des Target Operating Model, weg von einem ganzheitlichen, verflochtenen Produktkonglomerat hin zu effektivem Portfoliomanagement und intelligent aufgeteilten sowie zunehmend selbstständigen Geschäftseinheiten – den sogenannten Strategic Business Groups. Diese sind halb ausgegliederte Geschäftseinheiten, die mit einem kleineren Aufwand in eigenständige Business Units überführt werden können. Sie haben den großen Vorteil, dass sie es ermöglichen, effizient auf sich kontinuierlich verändernde Marktgegebenheiten zu reagieren. Zudem helfen sie dabei, verschiedene Geschäftsmodelle parallel zu managen und Vorteile eines guten Timings einzelner strategischer Alternativen – wie zum Beispiel Partnerschaften, Kauf oder Verkauf von Geschäftseinheiten – zu maximieren, ohne bestehende Synergien zu verlieren. Dabei ist es wichtig, die Strategic Business Group basierend auf dem definierten Zielbild und den bevorzugten strategischen Maßnahmen auszugestalten und die Umsetzbarkeit anhand verschiedenster möglicher Inhibitoren detailliert zu bewerten. 

Unabhängig davon, ob man sich in einem Wachstumssegment bewegt, ob man versucht, auslaufende Produkte effektiv zu managen, oder sogar beides gleichzeitig: Ein erster wichtiger Schritt zum Erfolg ist die Flexibilisierung der Organisation mit intelligent aufgeteilten sowie größtenteils selbstständigen Geschäftseinheiten – den sogenannten Strategic Business Groups.

Zusammenfassend bleibt zu betonen, dass die Bestandsaufnahme und Verortung des Portfolios im Hinblick auf das definierte Zielbild der erste wichtige Schritt der Transformation eines Unternehmens ist. Dabei muss zwingend bewertet werden, ob es noch „die eine Strategie“ gibt oder ob es eher diverse Strategien braucht, die dann quasi individuell für die diskreten Teilkonzerne erstellt werden und mit entsprechend konkreten Umsetzungsplänen, Steuerungsmechanismen und organisatorischem Rahmen die langfristige Wertmaximierung für Automobilkonzerne und Zulieferbetriebe gewährleisten. Dabei sollte eine derart ganzheitlich, aber doch konkret auf die verschiedenen Bedürfnisse einzelner Geschäftseinheiten zugeschnittene Herangehensweise Gegebenes infrage stellen, einen möglichst objektiven Blickwinkel einnehmen und dabei nicht den Fehler begehen, „heilige Kühe“ zu schonen. Ein solcher Prozess kann unbequem sein und ist dennoch der entscheidende Schlüssel zum Erfolg in der Transformation.

Fazit

Die Elektromobilität ist keine Frage mehr des Ob, sondern des Wann. Deswegen braucht es jetzt in Zeiten der Transformation der Automobilindustrie ein entschlossenes und schnelles Handeln, um auch für Investoren und Kapitalgeber attraktiv zu bleiben. Diese bevorzugen eine klar definierte Equity Story. Gerade die Neustrukturierung des Produktportfolios und der damit verbundenen Prozesse erfordert eine hohe Flexibilität. Eine Lösung können dabei selbstständige Geschäftseinheiten – die sogenannten Strategic Business Groups – sein. Hinzu kommt, dass im jetzt anziehenden Wettbewerb die richtigen Partnerschaften ein entscheidendes Kriterium sein können. Wer den Weg der Transformation erfolgreich beschreiten will, darf zudem auch vor „heiligen Kühen“ keine Rücksicht nehmen. Nur so kann die langfristige Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden.

Über diesen Artikel

Autoren
Constantin Gall

Managing Partner Strategy and Transactions

Hat jahrzehntelange Erfahrung in der Strategie- und Transaktionsberatung sowie in der Automobilbranche. Ist auch privat ein Autoenthusiast und geht gerne mit Familie und Freunden auf Reisen.

Kevin Rebbereh

Director, Automotive Strategy, EY-Parthenon GmbH

Tech and auto enthusiast. Builds new concepts, promotes innovation and develops best practices. Endurance athlete and family man. Sees entrepreneurialism as a team sport.